Die im Novemberpogrom zerschlagenen Strukturen der Jüdischen Wohlfahrt wurden auf staatliche Anordnung zum Teil wieder reaktiviert, wobei die Auswanderungsförderung Priorität haben sollte. Bis 1940 unterstand die jüdische Wohlfahrtspflege der Stadt, der es vor allem um die Minimierung eigener Kosten ging.
Als Folge des Novemberpogroms von 1938 und der sich anschließenden Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes änderten sich auch die Bedingungen jüdischer Sozialfürsorge in Frankfurt in vieler Hinsicht einschneidend. Einerseits war durch die Terror- und Verfolgungshandlungen die Auswanderung als letzte Rettungsmöglichkeit ins Bewusssein gerückt worden, sodass sich die jüdischen Menschen nun immer verzweifelter darum bemühten. Andererseits waren durch den Pogrom die meisten jüdischen Einrichtungen zerstört, geplündert oder beschädigt – geschlossen wurden zunächst alle. Zugleich wurde jeder Wiederbeginn durch die vorübergehende Deportation der männlichen Juden erheblich verzögert und behindert. Die rechtliche Situation war völlig unklar, da der Nationalsozialistischen Volksfürsorge (NSV) strengstens untersagt war, die jüdische Fürsorge zu übernehmen, die alten Strukturen aber zerschlagen waren, wie aus einer Aktennotiz des städtischen Fürsorgeamts vom 21. November 1938 hervorgeht (zitiert aus: Dokumente, S. 319f.):
„Eine Besprechung bei Oberregierungsrat Dr. Rasch von der Gestapo ergab, daß auch diese keine Verfügungsgewalt über die jüdischen Vermögen und Sachwerte hat, daß außerdem, ebenso wie auf Seiten der NSV, jedoch der Wunsch besteht, das Städtische Fürsorgeamt möge sich bis zur endgültigen, gesetzlichen Klärung der Eigentumsverhältnisse an jüdischen Werten in die Geschäftsführung dieser Einrichtungen einschalten und sachgemäße Weiterführung gewährleisten, soweit Fürsorge für Juden durch die gesetzlichen Vorschriften geboten sei. Oberregierungsrat Dr. Rasch erklärte sich bereit, den Geschäftsführer Dr. Bergel alsbald aus dem Konzentrationslager zu entlassen. Außerdem wurde angeregt, daß das Fürsorgeamt einen Kommissar bestelle, der für eine Überwachung des Geschäftsführers und für Weiterführung der notwendigsten wohlfahrtspflegerischen Arbeiten sorge. Der Herr Oberbürgermeister ist damit einverstanden, daß das Fürsorgeamt den Verw. Insp. Schwarz von der Kreisstelle 5 zum Kommissar bestellt, wobei die Aufgaben des Kommissars auf Überwachung einer ordentlichen Geschäftsführung und auf Durchführung der gesetzlichen Fürsorgeaufgaben beschränkt bleiben sollen, mit der Maßgabe, daß er ihm irgendwie verdächtig erscheinende Maßnahmen alsbald dem Amtsleiter des Fürsorgeamtes zu melden hat.“
Die Absichten des Regimes erläutert ein Bericht des Fürsorgeamts über eine Besprechung des Deutschen Gemeindetages in Berlin am 1. März 1939 (Dokumente S. 320 ff):
„Zur Verhandlung stand die Regelung der Fürsorge für hilfsbedürftige Juden. Ministerialrat Ruppert vom Reichsministerium des Innern trug vor, daß eine Durchführungsverordnung zum Reichsbürgergesetz bevorstände, die eine Zwangsvereinigung aller Juden, auch der christlich getauften, vorsieht, mit dem Zweck, auf Grundlage von Zwangsbeiträgen die Fragen der Auswanderung, des Schulwesens und der offenen und geschlossenen Wohlfahrtspflege geldlich sicherzustellen. Die Frage, ob die Wohlfahrtspflege grundsätzlich auch in die Hände der Verwaltung der Juden gelegt werden soll, wird dabei offengelassen. Dabei wird angenommen, daß die im Besitz der Juden befindlichen Mittel vorläufig zur Durchführung dieser Aufgaben genügen, daß allerdings infolge der Auswanderung der wohlhabenden Juden allmählich, aber sicher die Mittel verknappen werden.“
Das NS-Regime verfügte also die Zwangsmitgliedschaft aller jüdischen Menschen und Einrichtungen in der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“. Die Jüdische Gemeinde Frankfurts (in der nach dem Novemberpogrom die Israelitische Gemeinde und die Israelitische Religionsgesellschaft zwangsvereinigt worden waren) wurde zur Zweigstelle dieser Reichsvereinigung (mit Zentrale in Berlin), die zunächst vom Innenministerium und dann vom Reichssicherheitshauptamt kontrolliert wurde. Als weitere Instanzen der Reichsvereinigung fungierten in Frankfurt die Bezirksstellen für Hessen-Nassau und für Hessen. Die Aufgaben und Pflichten aller bis zum Novemberpogrom bestehenden jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen gingen auf die im Dezember 1938 von der Jüdischen Gemeinde gegründete Jüdische Wohlfahrtspflege e.V. über, die zunächst im Haus der Israelitischen Suppenanstalt, Theobaldstraße, dann im Gebäude der Israelitischen Volksschule, Röderbergweg, ihre Büros hatte und von der Stadt Frankfurt in Person Inspektor Georg Schwarz’ kontrolliert wurde.
Dessen Aufgaben wurden in einem Bericht des Rechnungsprüfungsamts vom 23. Juni 1939 so umrissen (zitiert aus Dokumente, S.. 324 f.):
„II. Tätigkeit des Verw. Insp. Schwarz, die sich aus der Bearbeitung der laufenden Geschäfte ergab.
a) Einrichtung von Heimen aller Art, von Anlernwerkstätten für Berufsausbildung und Umschichtung, von sonstigen Lehrgängen (für Sprachen usw.) zur Förderung der Auswanderung.
b) Beschaffung der hierfür erforderlichen Räume, der Einrichtungsgegenstände, Freigabe der Lehr- und Pflegekräfte, die zum Teil in Lagern untergebracht waren.
c) Einholung der Genehmigung zur Führung dieser Einrichtungen bei der Geheimen Staatspolizei, beim Herrn Regierungspräsidenten, Polizeipräsidenten usw.
d) Abschluß von Lieferungsverträgen für Verbrauchsgegenstände (Beköstigung, Beleuchtung, Heizung usw.).
e) Anträge der verschiedensten Art auf Freigabe von beschlagnahmten jüdischen Vermögenswerten.
Die Aufgaben zu a) bis e) wurden in einer Besprechung beim Fürsorgeamt am 23. 11. 1938 behandelt und gutgeheißen.
f) Mitwirkung bei der Abgabe von Steuererklärungen und bei Einsprüchen gegen Veranlagungen.
g) Einsammeln der durch die November-Ereignisse herrenlos gewordenen Gegenstände des täglichen Bedarfs.
h) Verhandlungen mit Postämtern wegen Entfernungen und Neueinrichtungen von Fernsprechanschlüssen; desgleichen mit dem Postscheckamt wegen Auflösung und Zusammenlegung von Konten.
i) Anträge an das Amtsgericht wegen Auflösung und Eintragung von Vereinen, Satzungsänderungen usw., Sicherstellung von Vermögenswerten.
k) Schaffung einer ambulanten offenen Krankenpflege zur Entlastung der Anstaltspflege. Erfolgte im Einvernehmen mit dem Fürsorgeamt.
l) Beschaffung und Verlängerung der für die Auswanderung erforderlichen Pässe, Visen, Unbedenklichkeitsbescheinigungen usw. Fürsorgeamt hat Kenntnis gehabt.
m) Verhandlung mit den zuständigen Stellen über ein verkürztes, beschleunigtes Verfahren wegen der geforderten Förderung der Auswanderung.
n) Verhandlung mit dem Regierungspräsidenten wegen Zulassung von Pflegestellen für die Unterbringung von zahlungsfähigen alleinstehenden Juden, desgleichen wegen Wiedereröffnung eines jüdischen Gasthauses und eines Speisehauses. Ist mit Fürsorgeamt besprochen worden (vgl. Niederschrift vom 23. 11. 38).
o) Verhandlung mit den zuständigen Stellen wegen Einsatzes der arbeitsfähigen jüdischen Bevölkerung.
p) Verhandlungen mit Schiffahrtsgesellschaften wegen Bereitstellung von Plätzen für jüdische Auswanderer.
q) Errichtung einer Notstandsküche, in der täglich etwa 900 Personen verpflegt werden, eines Kinderhortes und einer Säuglingsberatungsstelle.
Diese Aufgaben hat Schwarz im Einvernehmen und engster Zusammenarbeit mit der jüdischen Wohlfahrtspflege e.V., der Jüdischen Gemeinde und dem Fürsorgeamt durchgeführt.…“
Der NS-Politik zwischen dem Novemberpogrom und 1940 ging es vor allem darum, möglichst viele Juden durch Ausreise los zu werden, zugleich eine geordnete und für die Stadtkasse möglichst kostenneutrale Struktur der jüdischen Fürsorge zu erhalten und schließlich die Zwangsarbeit von Juden zu organisieren. Das Interesse der in der jüdischen Wohlfahrt Verantwortlichen bestand ebenfalls darin, möglichst vielen Leidensgenossen die rettende Auswanderung zu ermöglichen und die sich stets steigernden sozialen Probleme so weit wie möglich abzumildern. So konnten auch noch 1939 neue Programme umgesetzt werden: die Einrichtung einer Anlernwerkstatt für Weißzeugnäherei und Berufskleidung in der Fahrgasse 115. Ihre Arbeit war nicht nur wegen der Ausbildung und Vorbereitung zur Auswanderung wichtig, sondern ab Kriegsbeginn auch in Kooperation mit der jüdischen Kleiderkammer für die Versorgung der jüdischen Menschen mit Kleidung, da diesen der Kauf von Kleidung oder Stoffen zunehmend unmöglich gemacht wurde. Parallel dazu liefen auch noch nach Kriegsbeginn die Aktivitäten der Zweigstelle des Palästina-Amts und des Hilfsvereins der Juden in Deutschland dank finanzieller Unterstützung amerikanisch-jüdischer Hilfsorganisationen bis zum endgültigen Verbot der Auswanderung 1941 weiter – wenn auch wegen der wesentlich eingeschränkteren Auswanderungsmöglichkeiten in erheblich vermindertem Umfang.
Ab Frühjahr 1940 wurde die staatliche Kontrolle der jüdische Wohlfahrtspflege aus der unmittelbaren Verantwortung der Stadt genommen und der Gestapo und ihrem Beauftragten Ernst Holland übertragen: Damit begann die Endphase jüdischer Wohlfahrt, gekennzeichnet durch Zwangsarbeit, innerer Ghettoisierung und schließlich Deportation in die Vernichtungslager.
Literatur::
Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933–1945, hg. von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden, Frankfurt am Main 1963, S. 319–337
Gudrun Maierhof, Selbsthilfe nach dem Novemberpogrom. Die Jüdische Gemeinde in Frankfurt am Main 1938 bis 1942, in: Monica Kingreen (Hg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 17), 1999, S. 157–186.
Die im Novemberpogrom zerschlagenen Strukturen der Jüdischen Wohlfahrt wurden auf staatliche Anordnung zum Teil wieder reaktiviert, wobei die Auswanderungsförderung Priorität haben sollte. Bis 1940 unterstand die jüdische Wohlfahrtspflege der Stadt, der es vor allem um die Minimierung eigener Kosten ging.