Das Frankfurter Dulag Luft im Bombenkrieg: Kriegsgefangene als menschliche Schutzschilde

"Durchgangslager für kriegesgefangene alliierte Soldaten (Dulag Luft) in Oberursel: Blick von einem Wachturm auf zwei Baracken des Transitlagers (links); rechts im Bild die Kommandantur mit angeschlossenen Einrichtungen der Auswertestelle West."

Weihnachstfeier für kriegsgefangene alliierte Luftwaffensoldaten im Durchgangslager (Dulag Luft) in Oberursel

1943 wurde im Grüneburgpark ein Durchgangslager für kriegsgefangene alliierte Piloten errichtet. Es sollte – der Genfer Konvention widersprechend – als menschliches Schutzschild gegen weitere Bombenangriffe auf die Stadt dienen. Da die alliierte Luftwaffe in der Folge aber den Tod eigener Soldaten in Kauf nahm und die Stadt weiter bombardierte, wurde das Lager nach einem halben Jahr wieder aufgelöst.

 

Nur ein halbes Jahr lang existierte ab September 1943 mit dem „Dulag Luft“ ein Kriegsgefangenenlager mitten im Frankfurter Stadtzentrum; in gefährlicher Nähe zum Hauptbahnhof, einem zentralen Angriffsziel der alliierten Bomberflotten. Stellte dessen bloße Existenz keine bewusst kalkulierte, eklatante Verletzung des Kriegsvölkerrechts dar – das Durchgangslager der Luftwaffe wäre nur eine historische Randepisode der Main-Metropole. So jedoch wird anhand der kurzen Geschichte des auf dem Gelände des Grüneburgparks neben dem Palmengarten errichteten Luftwaffen-Transitlagers die wechselseitige Eskalation des Luftkrieges ablesbar.

 

In zynischer Weise ging in Anlehnung an Vorstöße im Ersten Weltkrieg und Ideen von NS-Funktionären Reichsmarschall Hermann Göring, Oberbefehlshaber einer der Bomberoffensive nahezu machtlos zusehenden Luftwaffe, einer Frage nach: Konnten menschliche Schutzschilde alliierte Flächenbombardements auf besonders gefährdete Städte verhindern? Ein zutiefst menschenverachtender Vorsatz reifte, den in ähnlicher Stoßrichtung zuvor sogar Reichsleiter Martin Bormann wegen absehbarer Folgen für kriegsgefangene deutsche Soldaten ablehnte. Auch war der Plan ebenso völkerrechtswidrig wie die Anfang 1943 beschlossene Luftkriegsstrategie der Alliierten. Die umfasste Bombenteppiche zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung und das Konzept des „de-housing“: Zerstörung reiner Wohngebiete zur Vernichtung möglichst vieler dort lebender Industriearbeiter. Görings Versuchsballon, ein Kriegsgefangenenlager zur Abschreckung im Hauptzielgebiet strategischer Bombardierungen zu errichten, wurde vom Oberkommando der Wehrmacht mitgetragen. Dessen Chef, Feldmarschall Wilhelm Keitel, hatte keine Bedenken gegen eine Geiselnahme Kriegsgefangener. Es verwundert indes nicht, dass sowohl der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar Jakob Sprenger, als auch Oberbürgermeister Friedrich Krebs, nach Kräften kooperierten. Für Letzteren war das Lager schlicht der „Schutzengel Frankfurts“, wie der Dulag-Kommandant äußerte.

 

Die völlige Zerstörung des Dulag Luft im Rahmen einer konzertierten Großangriffsserie zeigte jedoch am Abend des 22. März 1944, dass die Alliierten den Tod ihrer Soldaten in der Hand des Feindes als Kollateralschaden billigend in Kauf nahmen. Weder die USA noch Großbritannien waren erpressbar. So verzichtete das Deutsche Reich künftig darauf, Kriegsgefangene zu Geiseln im Luftkrieg zu machen; obwohl Hitler in der Endphase des Zweiten Weltkriegs 1945 mehrfach entsprechende Pläne entwickelte. Hätten die Alliierten sich tatsächlich abschrecken lassen und keine Angriffe im Umkreis des Lagers geflogen – weniger zivile Opfer wären zu beklagen gewesen. Gleichzeitig aber hätte der Präzedenzfall dramatische Folgen gehabt: Seit Sommer 1943 war geplant, dann alle Kriegsgefangenenlager für Briten und Amerikaner aufzulösen, ausgebombte Zivilisten dort unterzubringen und die Alliierten im Reichsgebiet auf besonders gefährdete städtische Wohngebiete zu verteilen. Zumindest diese Eskalation im ohnehin totalen Krieg – sie hätte unabsehbare Repressalien und eine weitere Entwertung des stets zur Disposition stehenden Kriegsvölkerrechts bedeutet – wurde nicht Realität.

 

Zur Orientierung: Im Zweiten Weltkrieg gerieten zehntausende westalliierte Flieger in deutsche Kriegsgefangenschaft. Sie alle brachte man nach Oberursel im Taunus, wo der Luftwaffenführungsstab mit der „Auswertestelle West“ das größte Vernehmungs- und Nachrichtengewinnungszentrum der Wehrmacht unterhielt. Bei weitem nicht alle der bis 1945 eingebrachten 40.000 Gefangenen wurden auch verhört. Doch sie alle überstellte man ins gleich neben der Auswertestelle liegende Durchgangslager (Dulag Luft). Sammeltransporte brachten die Bomber- und Jagdbomberbesatzungen sowie die Jagdflieger von hier in eines der Luftwaffen-Stammlager (Stalag Luft).

 

Bis Mitte 1943 bewährte sich diese Routine. Da gelangte das nur 150 Personen fassende Oberurseler Transitlager aufgrund forcierter alliierter Angriffe an seine logistischen Grenzen. Simultan zu den Operationen stieg die Zahl kriegsgefangener Air Force-Angehöriger kontinuierlich. Der Entschluss reifte, das Dulag Luft aus dem Lagerverbund herauszulösen und zu vergrößern. Dass man es ausgerechnet in die 15 Kilometer entfernte Frankfurter Innenstadt verlagerte, stellte einen Bruch des Genfer Kriegsgefangenenabkommens (Artikel 9) dar. Dies besagte, kein Kriegsgefangener dürfe dazu benutzt werden, „durch seine Anwesenheit bestimmte Punkte oder Gegenden vor Beschießung zu schützen“.

 

Im Sommer 1943 begannen die Bauarbeiten im Grüneburgpark; sie dauerten acht Monate, so dass das neue Dulag Luft, kaum war es annähernd fertiggestellt, schon wieder zerstört wurde. Die Unterkünfte waren zur Aufnahme von maximal 500 Kriegsgefangenen konzipiert und umfassten elf, durch Stacheldraht und Wachtürme gesicherte Baracken. Zusätzlich entstanden sieben weitere Gebäude (u.a. Kommandantur und Lagerverwaltung). Oberstleutnant Becker, Kommandant des neuen Transitlagers, berichtet, er habe durchschnittlich 1.000 Personen auf der Baustelle eingesetzt (darunter ein Luftwaffenbaubataillon, sowjetische Kriegsgefangene, Insassen eines Erziehungslagers, Reichsarbeitsdienst). Ein solches Projekt dürfte logistisch ohne konstanten Zugriff auf Zwangsarbeiter kaum realisierbar gewesen sein. Auch lieferten die Frankfurter Behörden Baumaterial, um das Dulag möglichst rasch städtische Realität werden zu lassen. Bei der Unterbringung des Lagerpersonals improvisierte man: Offiziere wurden in Privatwohnungen einquartiert, für Wachmannschaften räumte man kurzerhand eine Schule; die Hilfskräfte kampierten auf dem Gelände des Palmengartens.

 

Schon im September wurde das neue Dulag Luft in Dienst gestellt. Die Auswertestelle West leitete jetzt alle Neuzugänge nach Frankfurt; bereits im ersten Monat waren dies 868 Air Force-Angehörige (53 Prozent Commonwealth, 47 Prozent USA). Von einem geregelten Dienstbetrieb war man weit entfernt. Neben der Kommandantur sorgten die zuvor schon in Oberursel eingesetzten Freiwilligen des ständigen alliierten Lagerstabs für einen leidlich reibungslosen Ablauf. Ein englischer Lance Corporal schrieb, er habe in den letzten Wochen sehr viel zu tun gehabt – „hunderte Neuzugänge!“ Und das alles auf einer Baustelle. Seiner Ehefrau teilte er als Adresse „Palm Garden, Frankfurt“ mit. Er erwähnte einen Luftangriff in der Nähe. Hoffentlich wisse man in der Heimat vom neuen Standort des Lagers. Die Gefangenenzahlen stiegen. Im Oktober waren es bereits 1.502 Personen (74 Prozent Amerikaner, 26 Prozent Briten). Die höchste Belegstärke eines Stichtags im selben Monat betrug 434 Mann. Jedoch unterlagen die täglichen Zugangsziffern enormen Schwankungen.

 

Am 4. Oktober 1943 erfolgte der erste Großangriff auf Frankfurt; mehr als 500 Menschen fanden den Tod. Das im Westend gelegene Dulag blieb unversehrt. Zu diesem Zeitpunkt verfügte es über keine Luftschutzeinrichtungen – die Folgen eines Treffers wären gravierend gewesen. Abgeschossene Bomberbesatzungen sagten im Verhör aus, sie hätten Weisung gehabt, nicht das Areal in „Oberursel“ zu bombardieren (kein Einsatzziel) . Von einem Lager in der Frankfurter Innenstadt wussten sie nichts. Ende des Jahres vertraute dann ein kriegsgefangener US Colonel Kommandant Otto Becker an, sein Vorgesetzter habe gesagt, er müsse das Frankfurter Dulag ja nicht absichtlich bombardieren; Rücksicht dürfe er aber nicht nehmen. Schließlich wurde der Luftschutz forciert: Splittergräben, Bunker und Löschteiche entstanden. Die britische Regierung protestierte im Dezember gegen den Standort. Im Auswärtigen Amt betonte man, der Schutz Kriegsgefangener könne nicht weiter gehen als der von Zivilisten. Nicht die Unterbringung in Wohngebieten, die alliierte Bombardierung selbiger sei völkerrechtswidrig. Die zähen über die Schweiz geführten Verhandlungen verliefen im Sande. Der Lagerkommandant erinnerte sich später, dass nicht nur seine Soldaten, sondern vor allem die Kriegsgefangenen – unter ihnen viele Bomberbesatzungen – „furchtbare Angst vor ihren Bomben“ hatten. Becker versuchte gar, prominente Gefangene als Faustpfand einzusetzen, um eine Bombardierung abzuwenden. Hierzu teilte er den Sohn des früheren US-Botschafters in London dem alliierten Stab zu, anstatt ihn in ein Stalag Luft zu überstellen. Seinen Eltern musste der junge Mann schreiben, wo er war. Beckers Kalkül, dies möge Roosevelt und Churchill zum Stopp der Angriffe auf Frankfurt veranlassen, ging nicht auf.

 

Vier Tage nach dem verheerenden Großangriff der Royal Air Force vom 18. März 1944 auf innerstädtische Gebiete, traf es auch das Dulag am Palmengarten: In der Nacht vom 22./23. März brannte es völlig aus. Dank seiner Bunkeranlage kamen nur zwei Personen ums Leben – erschlagen von umherfliegenden Trümmern. Löschen war unmöglich, da auf dem Gelände über sechzig Brände tobten. Aufgrund der enormen Hitze kam niemand an die Löschteiche heran. Doch im Vergleich zur durch den Feuersturm obdachlosen Zivilbevölkerung erging es den Dulag-Insassen besser. Am Morgen des 23. März 1944 marschierten Wachmannschaften und Kriegsgefangene ins fünf Kilometer entfernte Heddernheim, wo ein Sonderzug der Reichsbahn wartete. Mehrfach mussten die Landesschützen die alliierten Flieger vor ausgebombten Frankfurtern schützen, welche sie kurzerhand lynchen wollten. Als aber tags darauf die US Air Force zu einem letzten Vernichtungsschlag auf die Main-Metropole ausholte, waren die Gefangenen des Dulag Luft in Sicherheit: In Wetzlar, wo das Lager noch bis zum 27. März 1945 weiterbestand.

 

 

Literatur::

Stefan Geck, Dulag Luft / Auswertestelle West. Vernehmungslager der Luftwaffe für westalliierte Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg (Europäische Hochschulschriften Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften Bd. 1057), Frankfurt am Main, Berlin (u.a.) 2008.

Evelyn Hils-Brockhoff / Tobias Picard, Frankfurt am Main im Bombenkrieg. März 1944, Gudensberg-Gleichen 2004.

Dieter Rebentisch, Frankfurt im Bombenhagel und Feuersturm – die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, in: Bernd Heidenreich / Sönke Neitzel (Hg.), Der Bombenkrieg und seine Opfer, in: Polis 39 (2004), S. 58-70.

1943 wurde im Grüneburgpark ein Durchgangslager für kriegsgefangene alliierte Piloten errichtet. Es sollte – der Genfer Konvention widersprechend – als menschliches Schutzschild gegen weitere Bombenangriffe auf die Stadt dienen. Da die alliierte Luftwaffe in der Folge aber den Tod eigener Soldaten in Kauf nahm und die Stadt weiter bombardierte, wurde das Lager nach einem halben Jahr wieder aufgelöst.



Autor/in: Stefan Geck
erstellt am 01.01.2010
 

Verwandte Personen

Bormann, Martin


Churchill, Winston


Göring, Hermann


Keitel, Wilhelm


Roosevelt, Franklin


Sprenger, Jakob

Verwandte Begriffe

Commonwealth


Dulag


Grüneburgpark


Royal Air Force


Stalag

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