Wegen seiner jüdischen Herkunft verlor Erich Itor Kahn seine Anstellung bei Radio Frankfurt. Er ging bald darauf mit seiner Frau Frida Kahn nach Paris ins Exil. Während sein kompositorisches Schaffen nur wenig Beachtung fand, wurden prominente Musiker, darunter Pablo Casals, auf Kahns Qualitäten als Pianist aufmerksam. Nach zeitweiliger Internierung in französischen Lagern konnte das Ehepaar Kahn 1941 in die USA emigrieren.
Paris
Erich Itor Kahn am 1. April 1933 seine Stelle bei Radio Frankfurt durch Entlassung verloren hatte, war es seine Frau Frida Kahn, geb. Rabinowitsch, die auf eine Ausreise nach Paris drängte; dort hatten sich bereits Teile ihrer Familie niedergelassen. Im Herbst 1933 verließen die Kahns dann schließlich Frankfurt und siedelten sich in Paris an. Da sie keine Arbeitserlaubnis bekamen von den Behörden privates Unterrichten gerade eben geduldet wurde, war die finanzielle Situation überaus schwierig, nur dadurch abgemildert, dass Kahn durch die Intervention von Hans Rosbaud sein Gehalt noch einige Monate über die Entlassung hinaus ausgezahlt bekam. In einem Brief an seinen Freund, den schweizer Komponisten und Schönberg-Schüler Erich Schmid, beschreibt Kahn die Gefühle der Fremdheit und der Frustration bei seiner Suche nach Arbeit folgendermaßen: „Also stelle Dir vor: in diesem Wust von Hasten, Drängen und Streben komme ich herein, ein Fremder der Nationalität, der Artung und dem Geiste nach. Und nun langsam das Tasten und Umschauen, das Orientieren und Suchen. Im Verlauf von kaum 8 Monaten kam ich mit vielen, vielen Menschen zusammen, hab’ hunderte von Briefen geschrieben (!) ebensoviele Besuche gemacht, in Büros, Wohnungen, Gesellschaften, Cafés, um ja keinen Hinweis zu versäumen. Ich nannte es immer die ‚gespenstische Jagd‘. Es ist wahrhaft unheimlich. Und nun bin ich so weit, daß ich einen gewissen Kreis wie eine Kette abgegangen habe. Die Leute waren zum allergrößten Teil sehr nett. Getan haben die wenigsten etwas […].“ (zit. n. Allende-Blin 1994, S. 49) Nur langsam konnte Erich Itor Kahn in Paris beruflich Fuß fassen – als Pianist. Der Komponist blieb, zumindest was Aufführungsmöglichkeiten betraf, isoliert. Durch die Hilfe einiger Empfehlungsschreiben von Hans Rosbaud wurden allmählich Musikerkreise auf Kahn aufmerksam, und er avancierte zu einem gesuchten Kammermusiker und Liedbegleiter. Er konzertiere mit Pablo Casals, Marya Freund oder Samuel Dushkin. Die für Kahn wichtigste Begegnung in Paris war aber wahrscheinlich die mit René Leibowitz, der Kahn bat, ihn in die Zwölftonlehre Arnold Schönbergs einzuführen. Leibowitz schreibt später, Kahn sei zu diesem Zeitpunkt der einzige Komponist in Paris gewesen, der dazu in der Lage gewesen sei. Leibowitz wurde Erich Itor Kahns Schüler und Freund und setzte sich als Dirigent nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mit verschiedenen Aufführungen in Paris und Brüssel für Kahns Kompositionen ein.
Tondokument: Mit der Komposition Nenia Judaeis Qui Hac Aetate Perierunt für Violoncello und Klavier (etwa: In Erinnerung an die Juden, die in diesen Zeiten umkamen) begonnen noch im Lager Les Milles in Frankreich und erst im amerikanischen Exil beendet, setzt sich Erich Itor Kahn mit der Verfolgung und Vernichtung seines Volkes auseinander. Zu hören ist der 1. Satz (Andante molto sostenuto) mit Lucas Fels (Klavier) und Jean Pierre Collot (Violoncello). Die Aufnahme entstand 2007 und ist der CD Erich Itor Kahn TLS 073 mit freundlicher Genehmig der telos music records, Mechernich, entnommen.; © telos music records
Im September 1939 wurde Kahn interniert und kam bis Dezember in ein Lager in Marolles-par-Fossé. Nach wenigen Monaten in Freiheit wurde er abermals interniert und befand sich etwa ein Jahr lang mit kurzen Unterbrechungen in den Lagern Gurs und Les Milles, bevor er und seine Frau durch die Unterstützung Varian Frys und des American Jewish Joint Committee Frankreich im Mai 1941 verlassen konnten. Die Reise geriet zu einer Odyssee, bei der die Kahns mehrere Wochen unfreiwillig in Casablanca ausharren mussten, währenddessen ihre Visa abliefen. Durch erneutes Engagement von Freunden und des American Jewish Joint Distribution Committee gelangten die Kahns schließlich im August 1941 nach New York.
New York
Ebenso wie für Erich Itor Kahns Zeit in Paris gilt auch für sein New Yorker Exil, dass sich eine Diskrepanz zwischen seinen Erfolgen als Pianist und als Komponist beobachten lässt. Während seine Suche nach Aufführungsmöglichkeiten für seine Werke anfänglich ohne Ergebnis blieb, gelang es ihm als Pianist vergleichsweise schnell, in den USA Fuß zu fassen; ein Reflex sicher auch der veränderten gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen, denen Kahn sich in den USA gegenübersah: Anders als in Europa zählten weniger die Diplome und Zeugnisse, die den Weg zu einer festen Anstellung wiesen, als vielmehr die berufliche Flexibilität, die unmittelbare musikalische Kompetenz, die zu demonstrieren war und honoriert wurde. Gemeinsam mit Alexander Schneider (Violine, ehemals Budapest Quartett) und Benar Heifetz (Violoncello, ehemals Kolisch Quartett) gründete Kahn das Albeneri Trio (benannt nach den Anfangsbuchstaben der Vornamen der Musiker). Das Trio avancierte zu einem gefragten Kammermusikensemble und spielte zudem auch einige Schallplatten ein.
Auch als Komponist konnte Kahn in seinen letzten Lebensjahren eine – wenn auch langsam – wachsende Anzahl von Werkaufführungen in den USA und in Europa verzeichnen. Direkt nach seiner Ankunft in New York hatte er sich in seinen Kompositionen zunächst stark mit der Situation der Verfolgung und des Kriegs auseinandergesetzt; Kahn war einer der ersten Komponisten, die diese Themen in ihren Werken aufgriffen. Es entstanden die „Ciaccona dei tempi di guerra“ für Klavier und „Nenia Judaeis qui hac aetate perierunt“ für Violoncello und Klavier (beide Kompositionen stammen aus dem Jahr 1943).
Nach Kriegsende nahm Erich Itor Kahn wieder Kontakt nach Deutschland auf, ohne jedoch daran zu denken, jemals wieder nach Frankfurt zurückzukehren (die Kahns wurden 1947 US-amerikanische Staatsbürger). Seit 1948 war Hans Rosbaud Leiter des Symphonieorchester des Südwestfunks in Baden-Baden. Unter Rosbauds Leitung fanden in Baden-Baden schließlich die ersten Aufführungen von Werken Kahns nach 1945 in Deutschland statt – zugleich auch die letzten zu Lebzeiten Kahns: Es handelt sich um die „Symphonies Bretonnes“ (1940/41), die 1950 in Baden-Baden uraufgeführt wurden, und um den „Actus tragicus“ (1946), der 1955 beim Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) aufgeführt wurde. Bei dieser Gelegenheit besuchte Kahn auch noch einmal Frankfurt, wo er im Hessischen Rundfunk einige seiner Klavierwerke einspielte. Die Aufnahmen erschienen nach seinem Tod in den USA als Schallplatte und sind auch heute noch im Deutschen Rundfunkarchiv in Wiesbaden erhalten.
Erich Itor Kahn starb am 5. März 1956 in New York an den Folgen eines anderthalb Jahre zuvor erlittenen Autounfalls. Frida Kahn überlebte ihren Mann um fast 50 Jahre; sie starb am 2. März 2002 im Alter von 96 Jahren in New York. Die Grabstätte von Erich Itor Kahn und Frida Kahn befindet sich auf dem Westchester Hills Cemetery in der Nähe von New York.
Literatur und Quellen::
Juan Allende-Blin, Erich Itor Kahn, München 1994 (Musik-Konzepte 85)
Lutz Becht, Der jüdische Komponist Erich Itor Kahn, in: Brockhoff, Evelyn (Hg.): Musik in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 2008 (=Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 71), S. 99-110
Frida Kahn, Generation in Turmoil, New York 1960.
Claudia Maurer Zenck, Erich Itor Kahn. Ein unbekannter Mittler der Neuen Musik, in: Musica 40, 1986, S. 525-631
Institut für Stadtgeschichte, S 2, Signatur 14.442, Erich Itor Kahn
Dokumentarfilm: Vergessene Musik – Erich Itor Kahn (ein Film von Karin Alles), Hessischer Rundfunk ESD 04.03.1993
Auswahl-Diskographie (Kompositionen von Erich Itor Kahn):
– Klavierwerke. Thomas Günther (Klavier). Cybele Records SACD 160.403 (2007);
– Nenia/ Streichquartett/ Ciaccona. Leonardo Quartett/Stefan Litwin/Lucas Fels/Jean Pierre Collot. telos music records TLS 073 (2007).
Eine Diskographie für den Interpreten Kahn findet sich in: Markus Grassl/Reinhard Kapp (Hg.), Die Lehre von der musikalischen Aufführung in der Wiener Schule. Verhandlungen des Internationalen Colloquiums Wien 1995, Wien u. a. 2002, S. 757-759.
Wegen seiner jüdischen Herkunft verlor Erich Itor Kahn seine Anstellung bei Radio Frankfurt. Er ging bald darauf mit seiner Frau Frida Kahn nach Paris ins Exil. Während sein kompositorisches Schaffen nur wenig Beachtung fand, wurden prominente Musiker, darunter Pablo Casals, auf Kahns Qualitäten als Pianist aufmerksam. Nach zeitweiliger Internierung in französischen Lagern konnte das Ehepaar Kahn 1941 in die USA emigrieren.