Aus der Urteilsbegründung im „Strafprozeß gegen Mulka und andere“ (erster Frankfurter Auschwitz-Prozess).
„Die Staatsanwaltschaft hat zu Beginn ihres Plädoyers die Fragen aufgeworfen: Warum ein Auschwitz-Prozeß? Und: Warum heute noch ein Auschwitz-Prozeß? Diese Fragen werden für die Staatsanwaltschaft von Interesse gewesen sein, als sie sich darüber schlüssig werden mußte, ob sie diesen Prozeß einleiten sollte. Für das Schwurgericht sind derartige Fragen nicht zu stellen. Wenn auch der Prozeß weit über die Grenzen dieses Landes Beachtung gefunden hat und den Namen „Auschwitz-Prozeß“ erhalten hat, so blieb er für das Schwurgericht ein „Strafprozeß gegen Mulka und andere“. Das heißt, es war für die Entscheidung des Schwurgerichts nur die Schuld der Angeklagten maßgebend.
Das Schwurgericht war nicht berufen, die Vergangenheit zu bewältigen, es hatte auch nicht zu prüfen, ob dieser Prozeß zweckmäßig war oder nicht. Das Schwurgericht konnte nicht einen politischen Prozeß führen, schon gar nicht einen Schauprozeß. Ich muß in diesem Zusammenhang mein Bedauern aussprechen darüber, daß dieses Wort überhaupt gefallen ist. Denn derjenige, der diesen Prozeß verfolgt hat, weiß, daß dieser Prozeß alles andere war als ein Schauprozeß, bei dem die Entscheidung von vornherein feststeht und das Verfahren selbst nichts anderes ist als eine Farce, um der Öffentlichkeit eine Schau zu geben. Das Gericht hat sich bemüht, die Wahrheit zu erforschen. Die Länge des Prozesses und die zahlreichen Beweiserhebungen, die durchgeführt wurden, sprechen dafür, daß allein die Erforschung der Wahrheit im Mittelpunkt dieses Verfahrens gestanden hat.
Es ist nun hier wiederholt zum Ausdruck gebracht worden, daß es nur die kleinen Leute seien, die hier vor Gericht stünden. Wie bereits zu Anfang gesagt wurde, sind jedoch diejenigen, die das Gesamtgeschehen an den Schreibtischen geplant und befohlen haben, zum größten Teil nicht unter den Lebenden. Hitler, Himmler, Göring, Heydrich, Liebehenschel, Pohl, Baer, Höß, Grabner und eine andere Anzahl von SS-Leuten und Ärzten, wie Dr. Entress und Dr. Klein, sind bereits entweder durch den Richterspruch verurteilt oder durch Freitod aus dem Leben geschieden. Damit aber bleiben nur die noch übrig, die nicht in leitender Stellung waren.
Es wäre auch ein Fehler, zu sagen, daß die „kleinen Leute“ deshalb nicht schuldig seien, weil sie selbst das ganze Geschehen nicht eingeleitet haben. Sie waren genauso nötig, um den Plan der Vernichtung der Menschen in Auschwitz durchzuführen, wie diejenigen, die am Schreibtisch diesen Plan entworfen haben.
Bei der Frage der Schuld konnte das Gericht nur die kriminelle Schuld, das heißt die Schuld im Sinne des Strafgesetzbuches untersuchen. Nicht stand für das Gericht die politische Schuld, die moralische und die ethische Schuld im Mittelpunkt seiner Prüfung. Was diese Schuld anbelangt, so hat die Verteidigung von ihrem Recht und ihrer Pflicht, Zweifel an der Zuständigkeit des Gerichtes zu wecken, hinlänglich Gebrauch gemacht. Es ist zunächst überhaupt die Berechtigung für das Schwurgericht bestritten worden, eine Entscheidung über die in der Anklage aufgeführten Punkte zu fällen, und man hat die Meinung vertreten, das Gericht in Frankfurt sei nicht das richtige Gremium, um diese Taten aburteilen zu können, da ein Staat unmöglich bestrafen könne, was er in einer anderen Geschichtsphase befohlen habe. Von anderer Seite ist darauf hingewiesen worden, daß es sich bei dem Deutschen Reich in der Ära des nationalsozialistischen Staates um einen anderen Staat gehandelt habe, der sich seine Staatsmoral und seine Staatsgesetze nach eigenem Gutdünken habe geben können, ohne daß er heute von den Gerichten der Bundesrepublik dafür zur Verantwortung gezogen werden könne.
Diese Rechtsauffassung ist irrig. Die Bundesrepublik Deutschland ist infolge der Kontinuität in der Identität die Nachfolgerin des Deutschen Reiches. Dieser Staat besteht seit 1871 über die Weimarer Republik bis zur Bundesrepublik und hat immer die gleichen Strafgesetze gehabt. Diese Strafgesetze aber haben den Mord immer unter Strafe gestellt. Dem Nationalsozialismus stand zwar die umfassende Macht im Deutschen Reich zur Verfügung, diese setzte ihn aber nicht in die Lage, aus Unrecht Recht zu machen. Insbesondere konnte er nicht bestimmen, daß eine alle Merkmale einer strafbaren Handlung erfüllende Tat allein deswegen kein Unrecht sei, weil sie von einer bestimmten Person – mochte sie auch der alleinige Machthaber im Staate sein – befohlen wurde. Diesem Kernbereich des Rechts war auch der Nationalsozialismus unterworfen. Das gilt auch insbesondere für die Frage der „Endlösung der Judenfrage“.
Wie steht es nun um die individuelle Schuld dieser Angeklagten? Wäre diese Frage vor einundzwanzig Jahren mit umgekehrten Vorzeichen vor einem Standgericht in Auschwitz gestellt worden, sie wäre innerhalb von wenigen Stunden beantwortet gewesen; denn alle Angeklagten waren in Auschwitz, wo unfaßbare Verbrechen verübt wurden, und sie waren Mitglieder der SS. Das stand vom ersten Tag des Prozesses an fest. Dieser Tatbestand aber hätte jedem Standgericht ausgereicht, um die Angeklagten für schuldig zu befinden. Aber gerade darin liegt der Unterschied zwischen der rechtsstaatlichen Rechtsprechung und einer sogenannten Rechtsprechung, wie sie seinerzeit in Auschwitz geübt worden ist. Diese Feststellung der Schuld hat aber das Gericht vor außerordentlich schwere Aufgaben gestellt.
Außer wenigen und nicht sehr ergiebigen Urkunden standen dem Gericht zur Rekonstruktion der Taten der Angeklagten fast ausschließlich Zeugenaussagen zur Verfügung. Es ist eine Erfahrung der Kriminologie, daß Zeugenaussagen nicht zu den besten Beweismitteln gehören. Dies um so mehr, wenn sich die Aussage der Zeugen auf Vorfälle bezieht, die vor zwanzig Jahren oder mehr unter unsäglichem Leid und Qualen von den Zeugen beobachtet worden sind. Selbst der ideale Zeuge, der nur die reine Wahrheit sagen will und der sich bemüht, sein Gedächtnis zu erforschen, ist nach zwanzig Jahren manchen Erinnerungslücken unterworfen. Er gerät in die Gefahr, Dinge, die er tatsächlich erlebt hat, auf andere Personen zu projizieren, und Dinge, die ihm von anderen in diesem Milieu sehr drastisch erzählt wurden, als eigenes Erlebnis aufzufassen. Auf diesem Weg aber gerät er in die Gefahr, Zeit und Ort seiner Erlebnisse zu verwechseln.
Es ist gewiß für die Zeugen eine Zumutung gewesen, wenn man sie heute noch nach allen Einzelheiten ihrer Erlebnisse fragt. Es heißt die Zeugen überfordern, wenn man heute, nach zwanzig Jahren, noch wissen will, wann, wo und wie im einzelnen wer was gemacht hat. Aus diesem Grunde ist auch wiederholt von den Zeugen Erstaunen geäußert worden darüber, daß man von ihnen eine so präzise Wiedergabe des damaligen Geschehens verlangt hat. Es ist selbstverständlich und auch die Pflicht der Verteidigung gewesen, nach diesen Einzelheiten zu fragen. Und es ist durchaus unrecht, der Verteidigung; etwa zu unterstellen, sie wolle diese Zeugen der Lächerlichkeit anheimgeben. […]
Es handelt sich sicher hier um einen normalen Strafprozeß, mag er auch einen Hintergrund haben, wie er wolle. Das Gericht konnte nur urteilen nach den Gesetzen, die von ihm beschworen worden sind, und diese Gesetze erfordern nach der subjektiven und nach der objektiven Seite eine genaue Feststellung von der konkreten Schuld eines Angeklagten. […] die Angeklagten haben keinen Anhaltspunkt für die Erforschung der Wahrheit gegeben und im wesentlichen geschwiegen und zum großen Teil die Unwahrheit gesagt. Die Angeklagten können sich nicht beschwert fühlen, wenn in dem einen oder anderen Falle das Gericht den Zeugen gefolgt ist, weil die Angeklagten es unterlassen haben, mit der wahrheitsgemäßen Darstellung diese Zeugenaussagen zu berichtigen. Infolge der Beweisschwierigkeiten, in denen sich das Gericht befand, konnten nicht alle strafbaren Handlungen nachgewiesen werden. Das Gericht mußte vielmehr ausgehen nur von den Taten, für die ein konkreter Beweis erbracht war, da das Strafgesetzbuch Massenverbrechen nicht kennt. Das bedeutet, daß das Gericht sich auch soweit bescheiden mußte […]
Was die Höhe der Strafen anlangt, so kann nicht etwa mit mathematischer Division errechnet werden, wie hoch die Strafe für den jeweiligen Einzelfall ausgefallen ist. Selbst wenn in allen Fällen die Angeklagten wegen Mittäterschaft zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt würden, würde eine Division dieser Strafe durch die Anzahl der Opfer niemals auch nur zu einer annähernd gerechten Sühne führen. Dazu ist das Menschenleben viel zu kurz.“
Das Schlusswort des Vorsitzenden Richters Hofmeyer
Nach der mehr als elf Stunden dauernden Verlesung des Urteils und nach mehr als eineinhalbjähriger Prozessdauer sprach der Vorsitzende Richter Hofmeyer mit brechender Stimme sichtlich bewegt diese Schlussworte:
Tondokument: Schlusswort des Vorsitzenden Richters Hans Hofmeyer; © Fritz Bauer Institut
„Damit ist dieser Prozeß vor dem Landgericht in Frankfurt am Main beendet. Das Gericht mußte in 20 Monaten der Prozeßdauer noch einmal im Geiste all die Leiden und die Qualen erleben, die die Menschen dort erlitten haben und die mit dem Namen Auschwitz auf immer verbunden sein werden. Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann, ohne daß im Hintergrund und im Geist ihm die hohlen, fragenden und verständnislosen, angsterfüllten Augen der Kinder auftauchen, die dort in Auschwitz ihren letzten Weg gegangen sind. Das Gericht hat in dieser Zeit unter eine schweren seelischen Belastung gestanden.“
zitiert nach Monica Kingreen, Der Auschwitz-Prozess 1963–1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung, (Pädagogische Materialien Nr. 8, Fritz Bauer Institut), Frankfurt am Main, 2004, S. 93f.
Aus der Urteilsbegründung im „Strafprozeß gegen Mulka und andere“ (erster Frankfurter Auschwitz-Prozess).