Elisabeth Oestreicher, geb. Cahn, Volkschullehrerin – Denunziation, Verfolgung, Emigration

Denunziatorischer Brief einer Lehrerin, die als NS-Parteigenossin einen Stelle beansprucht.

Artikel im Frankfurter Volksblatt vom 2.3.1933 gegen die Lehrerin Oestreicher

Erste Seite eines Schreiben des Elternbeirats der Römerstadt-Schule an die Schulbehörde mit der Aufforderung, Frau Oestreicher zu entlassen.

Repressalien gegen die jüdische Lehrerin Liesel Oestreicher waren vielfältig: Notverordnung, Berufsbeamtengesetz, rassische Verfolgung. Und nach dem Krieg musste sie um eine Entschädigung kämpfen. Am schwersten wogen aber die Ermordung der Mutter und der Verlust der Heimat.

 

Elisabeth Cahn, geboren am 30. März 1893 in Frankfurt, wuchs in einer jüdischen Familie auf. Die junge Frau entschloss sich, Lehrerin zu werden. Am 26. Februar 1914 erhielt sie ihr Zeugnis der Lehrbefähigung für Lyzeen. Zwei Jahre später, am 16. Februar 1916 wird in einem Protokoll der Städtischen Schuldeputation zu Frankfurt am Main diesbezüglich vermerkt: „Es wird auf Grund der abgehaltenen Lehrprobe die Schulamtsbewerberin Liesel Cahn als zur Berufung in den hiesigen Schuldienst geeignet erklärt.“ Bei ihrer Anstellung verpflichtet sie sich, auch samstags zu unterrichten. Ebenso wird sie darauf hingewiesen, dass im Falle ihrer Verheiratung ihre Anstellung als Lehrerin hinfällig wäre, eine Auflage, die in der Weimarer Republik nicht mehr gültig war.

 

1930 zog Liesel Oestreicher, seit Mai 1929 mit dem Kaufmann Ernst Oestreicher verheiratet, in die Römerstadt, Hadrianstraße 19. Die Römerstadtsiedlung, projektiert von Stadtbaurat Ernst May, war eines der umfangreichsten Großsiedlungsprojekte der 20er Jahre.

 

Lehrerin in der Römerstadt
Gleichzeitig mit dem Umzug bat Liesel Oestreicher um Versetzung von der Arndtschule, an der sie bislang unterrichtete, in die Römerstadtschule, eine der neu errichteten Reformschulen. Liesel Oestreicher wurde schwanger und konnte von dem 1927 eingeführten Mutterschutzgesetz profitieren. Am 17. Juni 1930 wurde ihre Tochter Ursula Margarete geboren.

 

Nach den Sommerferien 1930 bestellte man Liesel Oestreicher, die gerade neu in das Kollegium der Schule aufgenommen worden war, zur Klassenlehrerin einer als schwierig geltenden dritten Klasse. Die Schauspielerin Liesel Christ war eine der Schülerinnen. Elisabeth Oestreicher scheint ihre Aufgabe, allen ungünstigen Bedingungen zum Trotz, gut gemeistert zu haben, denn Schulrat August Henze berichtete nach einem Unterrichtsbesuch lobend: „Frau Östreicher ist mir aus ihrer früheren Arbeit in Förderklassen als tüchtige, fleißige, energische und zielbewusste Lehrerin bekannt, die durch ihr ganzes Wesen, insbesondere den ihr eigenen Frohsinn, ihre Schüler anzufeuern und für sich zu gewinnen weiß. Schwierigkeiten, die ihr erwachsen, vermögen sie nicht abzuschrecken und in ihrem Wirken zu lähmen. Sie hat auch in ihrer jetzigen Klasse ihre ganze Energie und Kraft eingesetzt, sich in ihren Anforderungen auf die Leistungsfähigkeit ihrer Schüler gut eingestellt und bereits erreicht, dass ein Zusammenschweißen der Klasse angebahnt, zumindestens ein williges freudiges Arbeiten in derselben erzielt ist.“

 

Die im März 1931 noch hoch gelobten reformpädagogischen Unterrichtsprinzipien fanden allerdings bei einer erneuten Überprüfung im Dezember 1932 weniger Anklang. Magisteroberschulrat Schüßler bescheinigte Elisabeth Oestreicher zwar, sie habe „fleißig in der Klasse gearbeitet und besonders erzieherisch gute Erfolge erzielt“. Allerdings unterzog er, statt sich den Unterricht der Klassenlehrerin selbst vor Augen zu führen, die Klasse einem Probediktat und kam zu der Beurteilung, 14 der 33 anwesenden Schüler hätten mit vier und mehr Fehlern glatt versagt.

 

Die Kinder hatten ihre Lehrerin ins Herz geschlossen und umgekehrt, denn Liesel Oestreicher gelang es, die Kinder für gemeinsame Projekte zu begeistern. So veranstaltete die Klasse am 1. Juli 1932 einen „Bunten Abend“ im Festsaal der Schule, dessen Erlös für ihren bald anstehenden Wegscheideaufenthalt bestimmt war. Das Eintrittsgeld, das 30 Pfennig pro Person betrug, sollte bedürftigen Mitschülern die Fahrt in das Frankfurter Schullandheim ermöglichen. In dem bunten Festprogramm trat auch Liesel Christ auf. Zum Lohn fuhr die Klasse dann im Sommer 1931 auf die Wegscheide, allerdings ohne die Klassenlehrerin, die ihre pflegebedürftige Mutter, Mann und Kind zu versorgen hatte. Liesel Christ hielt in späteren Jahren, sogar nach der Emigration der Familie Oestreicher, noch Kontakt mit ihrer früheren Klassenlehrerin.

 

Spurlos gingen die Folgen der Weltwirtschaftskrise auch an der Familie Oestreicher nicht vorüber. Am 30. August 1931 forderte die Regierung zur „Mithilfe zur Steuerung der Jungelehrernot“ auf. Um anstellungslosen Schulamtsbewerberinnen und -bewerbern eine Chance zu geben, wurden alle Lehrerinnen und Lehrer aufgefordert, ihren Beitrag zur Behebung dieser Not zu leisten. „Falls in einer Lehrerfamilie Ehemann und Ehefrau im Schuldienst tätig sind, so würde unseres Erachtens – vorausgesetzt, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie durch Kinderzahl usw. nicht ganz besonders drückende sind – ein solcher Doppelverdienst von der Allgemeinheit in keiner Weise gebilligt werden und sollte ebenfalls zu einem Verzicht Anlass geben … Helfe, jeder, wo und wie er kann!“
Auch wenn dieses Schreiben strikt geschlechtsneutral formuliert ist, so bedeutete es in der Realität, dass Frauen „zurück an den Herd“ geschickt wurden. Liesel Oestreicher lehnte eine Kündigung jedoch ab, und begründete dies mit wirtschaftlichen Verlusten im Geschäft ihres Mannes.

 

Verfolgung
Die politischen Umbrüche 1933 trafen die beliebte Lehrerin mit Wucht. „Auf einmal waren wir Juden“, erinnerte sich die Tochter bei ihrem Besuch in Frankfurt im Juni 2008. Die Schilderungen der Vorgänge 1933 bringen ein vergiftetes Klima von Denunziationen, Verleumdungen, Beleidigungen sowie von massiver Diskriminierung anders Denkender zum Ausdruck. Zunächst wurde Liesel Oestreicher in einem Presseartikel im "Frankfurter Volksblatt" vom 2. März 1933 namentlich denunziert und zu Wahlkampfzwecken – am 5. März 1933 fanden die Wahlen zum Reichstag statt – missbraucht.
Flankiert wird diese öffentliche Verleumdung durch den Brief einer Lehrerin an die Kommunal-Abteilung der NSDAP. Darin klagt Maria Seefried darüber, sie sei immer wieder, unter anderem vom evangelischen Pfarrer, vom Rektor, von jüdischen Eltern oder von Kollegen wegen ihrer nationalen Haltung diskriminiert worden. „Ich wehrte mich natürlich verzweifelt gegen das Hinausgesetztwerden, darüber lachten die politisch gegnerischen Lehrerinnen, voran Frau Östreicher, Jüdin. Es ist erstaunlich, wie die Lehrerin Frl. Bethge, Claus, Anosi judenfreundlich gesinnt sind, herausbekommen habe ich, dass sie gegen Hitler sind.
Es wäre eine nationale Pflicht des Herrn Rektor Lotter gewesen, dafür zu sorgen, dass Frau Östreicher, geb. Cahn ihre zersetzende Tätigkeit aufgibt, statt dessen war ihre Klasse nach dem Wahlsiege Hitlers so unverschämt, dass sie hinter mir „Freiheit und Rotfront“ brüllten.
Ich muss verlangen, dass Frau Oestreicher sofort ihre Stelle verlässt, damit für mich ein Platz in der Römerstadtschule ist.“

 

In der Anlage denunzierte Frau Seefried gleich noch einige Kollegen der Hindenburgschule mit der Begründung, sie seien SPD-Mitglieder oder gar kommunistenfreundlich. „Es ist höchste Zeit, dass es anders wird, denn was soll aus der Jugend werden. Es kann da überhaupt keine Minute mehr gezögert werden.“

 

 

Auch der Schulelternbeirat nahm sich des „beunruhigenden Sachverhaltes“ an. Er beklagte ebenfalls die Hintansetzung tüchtiger, stellenloser Lehrerinnen und Lehrer und meintr eine Bevorzugung jüdischer Doppelverdiener feststellen zu können. „Das Unrecht des Falles Österreicher ist deshalb in doppelter Beziehung offensichtlich, einmal gegenüber der Elternschaft, zum anderen gegenüber den stellenlosen Berufskollegen. Wir bitten daher die städtische Schulbehörde, Maßnahmen zu ergreifen, um unverzüglich den vorerwähnten beunruhigenden Sachverhalt zu beseitigen, und sehen einem alsbaldigen Bescheid entgegen.“

 

„Beschwerden“ aus dem Kreis des Kollegiums verschlechterten das Klima weiter. Liesel Oestreicher übe einen zersetzenden Einfluss aus, wird behauptet. Dies zeige sich deutlich im „stark marxistischen“ und „pazifistischen“ Geist, der sich in ihrer Klasse breit gemacht habe. Kollege W., der einige Stunden vertretungsweise in Liesel Oestreichers Klasse unterrichtete, zeigte sich bereit, gegen seine Kollegin auszusagen. Zunächst wurde Liesel Oestreicher beurlaubt, kurz darauf wurde diese Beurlaubung am 26. April 1933 wieder aufgehoben. Am 2. Mai trat Oestreicher ihren Dienst in der Holzhausenschule an. Dort und an der Varrentrappschule war die Einrichtung jüdischer Klassen vorgesehen, „um die arischen Kinder dem jüdischen Einfluss vollständig zu entziehen“, wie der Oberbürgermeister dem Regierungspräsidenten am 24. Juni 1935 mitteilte.

 

Die Tatsache, dass Liesel Oestreicher nur versetzt, und nicht entlassen worden war, veranlasste die Ortsgruppe Praunheim in einem Schreiben an die NSDAP-Kreisleitung am 6. Mai 1933 zu einem erneuten Vorstoß: „Wir ersuchten damals um sofortige Beseitigung dieser Jüdin von dieser Schule. Wir müssen nun zu unserem großen Bedauern feststellen, dass Genannte nicht aus dem Schuldienst entlassen, sondern einfach an die Holzhausenschule überwiesen worden ist.“ Abgesehen davon, dass eine Jüdin arische Kinder nicht im nationalsozialistischen Sinne erziehen könne und werde, würde sie arischen Lehrerinnen die Arbeit und das Brot wegnehmen. „Die NSDAP-Ortsgruppe fordert schleunige Abhilfe und legitimiert diese Forderung mit dem Befremden von Parteigenossen, die diesbezüglich bereits an die Ortsgruppe herangetreten seien.“

 

Entlassung
Unter diesem Druck beantragte Liesel Oestreicher am 23. Mai 1933 ihre Entlassung aus dem Schuldienst. Möglicherweise wegen der noch anstehenden Untersuchung der gegen Liesel Oestreicher erhobenen Vorwürfe wurde diesem Antrag nicht unverzüglich zugestimmt, vielleicht wurde auch versucht, die Entlassung hinauszuzögern bzw. zu verhindern. Fest steht, dass die Stadt dem Regierungspräsidenten mitteilte, der Entlassungsantrag sei zurückgestellt worden. Nach Anhörung von Kollege W. und von Liesel Oestreicher, die mit der Aussage zitiert wird, sie sei Pazifistin, verfasste die Behörde einen vorläufigen Bericht. Am 17. August 1933 gab der Regierungspräsident Liesel Oestreicher zur Kenntnis, sie könne sich binnen drei Tagen zu den Vorwürfen äußern, bevor das Gesetz zur Wiederherstellung des Beamtentums zur Anwendung komme. Außerdem wird sie aufgefordert, Auskunft über die wirtschaftlichen Verhältnisse ihres Mannes zu geben. Die Untersuchung endete damit, dass dem Antrag von Liesel Oestreicher auf Entlassung gemäß Notverordnung vom 4. November 1931 entsprochen wurde. Die Entlassung erfolgte also interessanterweise nicht aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen.

 

Wie haben sich wohl Kolleginnen und Kollegen verhalten? Wie die Behörden? Wie oppositionelle Eltern? Wie die Schülerinnen und Schüler? Von den Kindern wissen wir durch Liesel Christ, dass die Entlassung ihrer geliebten Lehrerin, kurz vor dem eigenen Abschluss, ein schwerer Schlag für sie war. Viele Kinder besuchten ihre frühere Klassenlehrerin zu Hause und drückten ihr Bedauern aus. Dass es Kolleginnen gab, die ähnlich dachten wie Liesel Oestreicher, können wir dem Denunziationsschreiben von Marie Seefried entnehmen. Ob sie sich für ihre bedrängte Kollegin eingesetzt haben, wissen wir leider nicht. Wir können nur ahnen, wie vergiftet das Klima gewesen sein muss. In der Behörde gab es offensichtlich noch Anhänger des „Systems“. Zumindest wird deutlich, dass im Falle von Liesel Oestreicher den Forderungen der Nationalsozialisten nicht unmittelbar Rechnung getragen wurde. Man zögerte, dem Entlassungsgesuch der beliebten Lehrerin stattzugeben. Erschreckend ist, wie es den Nationalsozialisten binnen kürzester Zeit gelang, eine anerkannte Kollegin einer Hexenjagd auszusetzen, so dass sie entnervt aufgab.

 

Liesel Oestreicher erhielt, so lauteten die Bestimmungen der Notverordnung, zwei weitere Jahre Gehalt, um das sie allerdings auch noch kämpfen musste. 1935 nach Ablauf der Übergangsfrist betrieb Liesel Oestreicher, da sie keine Aussicht auf eine Wiederanstellung sah, zunächst ihre Pensionierung, was in einem Schreiben des Oberbürgermeisters an das Regierungspräsidium folgendermaßen kommentiert wird: „Frau Östreicher glaubt aus ihrem unterm 26.5.33 eingereichten Nachtrag ihres Entlassungsgesuchs irgendwelche Rechte geltend machen zu können“. Als dies scheiterte, versuchte Liesel Oestreicher die Familie mit Privatunterricht über Wasser zu halten, für den sie Genehmigungen für jeweils ein Jahr beantragen musste. Finanzielle Probleme zwangen die Familie zum Auszug aus ihrem Haus in der Hadrianstraße. Im Schriftwechsel mit der Behörde werden ab 1935 verschiedene Adressen genannt, die Bockenheimer Anlage und die Schumannstraße (Pension Valeria). Aufgrund der angespannten finanziellen Lage unternahm Liesel Oestreicher 1936 mit einem Gesuch an den Oberbürgermeister der Stadt Frankfurt einen erneuten Anlauf, wieder eine Anstellung zu erhalten:

 

„Da sich zu gleicher Zeit (1935) auch das von meinem Mann betriebene Einzelhandelsgeschäft vor erheblichen Schwierigkeiten gestellt sah, die private Entnahmen nur in einem gegen früher sehr gemilderten Umfange zuließen, sind uns materielle Sorgen nicht erspart geblieben. Ich habe daher, da ich auch meiner in meinem Haushalt wohnenden, über 70 Jahre alten, gebrechlichen Mutter gegenüber unterhaltspflichtig bin, es unternommen, durch Erteilung von privatem Unterricht einiges zu den Kosten des Haushalts beizusteuern. Dürfte ich bei diesen wahrheitsgemäß geschilderten Verhältnissen darum bitten, mich bei Freiwerden einer Lehrerinnenstelle an einer der jüdischen Klassen der hiesigen städtischen Volksschulen geneigtest zu berücksichtigen.“ Dieses Gesuch wurde mit der Begründung abgelehnt, es gäbe genügend Lehrkräfte. Zwar sprach die Familie auch vor dem Novemberpogrom immer wieder über eine mögliche Auswanderung, betrieb sie aber nicht mit Nachdruck. Trotz aller Diskriminierungen konnte sich das Ehepaar nicht vorstellen, Deutschland zu verlassen. Wohl vor dem Hintergrund dieser vagen Überlegungen stellte Anni Hammann, Leiterin der Privatschule, an der Liesel Oestreicher unterrichtete, der Lehrerin 1938 folgendes Zeugnis aus:

„Frau Liesel Östreicher ist mir während dreier Jahre eine treue Arbeitsgefährtin gewesen. Ich verdanke ihr manche wertvolle Anregung und werde ihre kameradschaftliche Gesinnung und ihre große Hilfsbereitschaft nicht vergessen. – Frau Östreicher besitzt ein seltenes Verständnis für die Kinderseele, und die kleinen und großen Mädchen und Knaben, die sie unterrichtete, hingen mit inniger Liebe und unbegrenztem Vertrauen an ihr. – Durch ihre frische Art versteht sie es, die Kinder mitzureißen und jedes Fach anregend zu gestalten. – Sie erteilte sowohl Unterricht in allen Elementarfächern, als auch in den Realfächern Geschichte, Erdkunde, Naturkunde. - Für den neusprachlichen Unterricht in Englisch und Französisch besitzt sie ausgezeichnete Kenntnisse. – Auch ihr Singunterricht bereitete den Kindern viel Freude, da Frau Östreicher ausgesprochen musikalisch ist. – Sie traf mit viel Geschmack die Auswahl der Lieder und pflegte mit feinsinniger Weise auch den Chorgesang. – Ich wünsche Frau Östreicher von Herzen, dass es ihr auch späterhin vergönnt sein wird, in dem Beruf zu wirken, für den sie in seltener Weise geschaffen ist.“

 

 

 

Woher hat Liesel Oestreicher die Kraft genommen, den Kindern so viel zu geben? Im November 1938 musste die Familie einer neuen Zerreißprobe standhalten. Die Wohnung der Oestreichers wurde verwüstet, Ernst Oestreicher im Zuge des Novemberpogroms1938 verhaftet und für mehrere Wochen in Buchenwald inhaftiert. Mithilfe der beiden Eisernen Kreuze aus dem Ersten Weltkrieg, die sie bei den Behörden vorlegen musste, gelang es Liesel Oestreicher, ihren Mann aus Buchenwald zu befreien. Ab dem 28. November 1938 wurden zunächst die Frontkämpfer aus dem Ersten Weltkrieg entlassen. Nach der Rückkehr von Ernst Oestreicher floh die Familie noch im Dezember 1939 zunächst nach England, dann in die USA.

 

Emigration
Auch wenn sich die Familie in den USA relativ gut einlebte, traf sie der Verlust der Heimat hart. Am schlimmsten war, so die Tochter Ursula, dass sie die Großmutter in Frankfurt zurücklassen mussten.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges musste Liesel Oestreicher erneut ernüchternde Erfahrungen mit deutschen Behörden machen. 1950 stellte sie einen Antrag auf „Wiedergutmachung“. Dies wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, sie sei nicht als Jüdin entlassen worden, nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, sondern auf Grundlage der Notverordnung von 1931. Das Regierungspräsidium ebenso wie die Stadt Frankfurt teilten mit, es gäbe somit keine Grundlage für einen Antrag auf Entschädigung. Sie verwiesen auf die Abfindungssumme, die Elisabth Oestreicher erhalten habe. Zwei Jahre später wurde der Anspruch als unbegründet zurückgewiesen. Weitere zwei Jahre später erfolgte jedoch ein neues Urteil, das zu einem anderen Ergebnis führte. Durch Bescheid vom 4. November 1954 wurde dem Antrag von Liesel Oestreicher auf Ruhegehalt doch stattgegeben mit der Begründung, ihr Antrag auf Entlassung sei durch die politischen Umstände erzwungen gewesen. Auch wenn die Familie in den USA Fuß fassen und wenn Liesels Oestreichers Antrag auf Entschädigung letztendlich doch positiv entschieden wurde, hat die ehemalige Frankfurterin den Verlust der Heimat und ihres Berufes und die Ermordung ihrer Mutter, die sie nicht mehr aus Deutschland herausholen konnte, nie verwinden können. Liesel Oestreicher verstarb 1984.

 

 

Literatur::

Sabine Hock, Liesel Christ. Volksschauspielerin. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2004

Personalakte 207.270, Liesel Oestreicher, geb. Cahn, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

Gespräch mit Margret Williams in der Ernst-Reuter-Schule 1 in Frankfurt am Main am 2. Juni 2008

Harry Stein, Das Sonderlager im Konzentrationslager Buchenwald nach den Pogromen 1938; in: Nach der Kristallnacht. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938-1945, S. 45

 

Repressalien gegen die jüdische Lehrerin Liesel Oestreicher waren vielfältig: Notverordnung, Berufsbeamtengesetz, rassische Verfolgung. Und nach dem Krieg musste sie um eine Entschädigung kämpfen. Am schwersten wogen aber die Ermordung der Mutter und der Verlust der Heimat.



Autor/in: Angelika Rieber
erstellt am 01.01.2008
 

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