Am 8. November 1967 begann in Frankfurt unter ungewöhnlich starkem Zuhörerandrang ein Verfahren wegen „Nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“. Im Vergleich zu früheren Verhandlungen, zum Beispiel dem 1. Auschwitzprozess 1963, stand erstmals kein ortsfremder Angeklagter vor Gericht. Wegen seiner Rolle bei der Deportation der bulgarischen Juden in die Vernichtungslager musste sich der frühere Frankfurter SA-Führer und Polizeipräsident Adolf Heinz Beckerle vor dem Schwurgericht verantworten. An ihn konnten sich noch viele Frankfurter aus den Jahren der gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen vor 1933 erinnern. Mit der „Machtergreifung“ 1933 hatte der verkrachte Student und „Alte Kämpfer“ der NSDAP eine steile Karriere gemacht, die ihn bis ins Auswärtige Amt führte.
Vor 1933
Beckerle wurde am 4. Februar 1902 als Sohn des Postoberamtsmanns Hans Beckerle und seiner Ehefrau Margarethe geb. Kammerer in Frankfurt geboren. Er besuchte zuerst die Adlerflychtschule, anschließend bis zur Untersekunda das Goethe-Gymnasium. Er war bei den Pfadfindern aktiv, durch den Einfluss seiner Familie engagierte er sich bei Kriegsende – gerade einmal 16 Jahre alt – beim Frankfurter Arbeiter- und Soldatenrat. Von dessen Übergriffen abgestoßen, fand Beckerle ins ultranationalistische Milieu. Sein Abitur legte er im Frühjahr 1921 an der Frankfurter Wöhlerschule ab, der Schule, die in diesem Jahr wegen eines geheimen Waffenversteckes und von den Lehrern veranstalteten Wehrsports auf dem Schulhof in die Schlagzeilen geriet. Möglicherweise schon als Schüler gehörte Beckerle dem seit 1920 auch in Frankfurt bestehenden Jungdeutschen Orden Arthur Mahrauns an und hatte an dem von diesem Verband zugehörigen Lehrern durchgeführten militärischen Drill auf dem Schulhof teilgenommen. Schriftführer der Frankfurter Ortsgruppe war zu dieser Zeit der Leutnant a.D. Friedrich Wilhelm Heinz, der zusammen mit anderen Freikorpskämpfern wie Ernst von Salomon und dem späteren Rathenau-Attentäter Erwin Kern die jungen Nationalisten sammelte und der aus der „Brigade Ehrhardt“ hervorgegangenen Geheim- und Terrororganisation „Organisation Consul“ zuführte. Nach der Ermordung des Reichsfinanzminister Matthias Erzberger 1921 tarnte sich die „Organisation Consul“ als „Verband nationalgesinnter Soldaten“ und ab Ende 1922 als Wiking-Bund. Beiden gehörte Beckerle ebenfalls an. Da Ehrhardt und Hitler Ende 1921 einen Kartellvertrag abgeschlossen hatten, der vorsah, dass die Ehrhardt-Brigadiere außerhalb Bayerns den Aufbau von NSDAP und SA vorantrieben, entstand im Frühjahr 1922 eine Ortsgruppe der NSDAP in Frankfurt und Beckerle wurde im August 1922 Parteimitglied mit der Mitgliednummer 7.197. Er fühlte sich von der NSDAP auch deshalb angezogen, weil sie „die Überwindung des Klassenkampfes durch eine Volksgemeinschaft von rechts bis links versprach“.
Beim Hitlerputsch 1923 trat Beckerle in Frankfurt offenkundig nicht in Erscheinung.
Nach dem Abitur hatte Beckerle zunächst Volkswirtschaft und Philosophie in Frankfurt studiert, jobbte unterdessen aber auch bei der Frankfurter Genossenschaftsbank und als Substitut eines Börsenmaklers, als Bergmann und in der Industrie. 1924 ging er nach Argentinien, Paraguay und Uruguay, wo er in auslandsdeutschen Kreisen herumgereicht wurde. Seine Schrift „Wir wollten arbeiten. Erlebnisse deutscher Auswanderer in Südamerika“ erschien 1942 unter dem Pseudonym Heinz Edelmann beim Frankfurter Diesterweg Verlag. Ob Beckerle aus politischen oder auch privaten Gründen Deutschland verlassen musste und sich wirklich mit Auswanderungsabsichten trug oder, wie so viele ehemalige Freikorps- und Wehrverbandsteilnehmer, in die Dienste lateinamerikanischer Regime treten wollte, bleibt offen.
Nach seiner Rückkehr trat Beckerle am 1. April 1925 als Offiziersanwärter der preußischen Schutzpolizei in der Polizeischule Hannoversch Münden ein, wurde jedoch mangels Planstellen nicht übernommen. Er beendete daraufhin sein Studium als Diplom-Volkswirt. Ein sich anschließendes Jurastudium konnte er wegen seines Engagements in der NSDAP nicht beenden. Mit seinem Wiedereintritt in die Partei (Mitgliedsnummer 80.983) und dem gleichzeitigen Eintritt in die im September 1928 wiedergegründete SA widmete er sich nun ganz dem Aufbau der Sturmabteilungen, den Propagandafahrten und Saalschlachten. Wie sich der spätere Polizei-Oberrat Willi Hofmann 1956 erinnerte, war Beckerle besonders in den Jahren ab 1930 in Frankfurt immer in vorderster Front zu finden, egal ob im Kampf gegen die Arbeiterparteien oder gegen die „verjudete Kultur“. „Er trat u.a. bei den Ausschreitungen der SA im Frankfurter Opernhaus anlässlich der Oper ‚Mahagonny‘, der ‚Strassenschlacht an der Hauptwache‘ (wobei die Litfasssäule in Brand gesetzt wurde), sowie bei den von der SA im Anschluss an die Beerdigung des erschossenen SA-Mannes Hans Handwerk ausgelösten Aufruhrhandlungen massgeblich und führend in Erscheinung.“
1932 brachte es Beckerle sogar zum Reichtstagsabgeordneten, was ihm die bitter benötigte Immunität bescherte, denn er musste mehr als einmal vor die Schranken des Gerichts treten. Polizei-Oberrat Hoffmann: „… zum SA-Obergruppenführer befördert, wurde er wegen Landfriedensbruchs durch Strafbefehl bestraft. In der Verhandlung seines Einspruchs demonstrierte er im Gerichtssaal gegen das damalige System und lehnte es ab, sich ‚als Nationalsozialist von dem Judenrichter Abraham‘ [korrekt: Dr. Nathan] verurteilen zu lassen.“
Funktionen im NS-System
Mit der „Machtergreifung“ ging es für Beckerle auf der Karriereleiter zunächst steil nach oben: Er wurde SA-Obergruppenführer und im September 1933 zum Polizeipräsidenten von Frankfurt ernannt. Der gescheiterte Jurastudent löste damit den zuerst eingesetzten Reichswehrgeneral a.D. von Westrem ab, der sich offenbar zu intensiv um die Klärung des Mordfalls Schäfer bemüht hatte. Der ehemalige Offenbacher Kreisleiter der NSDAP Dr. Karl Wilhelm Schäfer war 1933 im Frankfurter Stadtwald ermordet aufgefunden worden. Schäfer hatte im November 1931 der Polizei die vom späteren Gestapo-Justitiar Werner Best verfassten Notverfassungsentwürfe in die Hand gespielt. Diese „Boxheimer Dokumente“ hatten reichsweit für große Empörung gesorgt, war ihnen doch zu entnehmen, wie die NSDAP den Staatsstreich plante und wie radikal sie nach einer Machtergreifung vorgehen würde. Von Westrem hatte die Mörder von Schäfer offenbar innerhalb der Frankfurter SA lokalisiert, möglicherweise war es sogar Best selbst, der den Mord in Auftrag gegeben hatte. Unklar bleibt, ob auch Beckerle direkt an dem Fememord beteiligt war oder nur seine Kameraden oder aber Best decken wollte. Der Mord selbst wurde nie aufgeklärt, Beckerle untersagte der Kriminalpolizei alle weiteren Ermittlungen.
Es war stadtbekannt, dass sich Beckerle bei den Übergriffen auf Gegner auch selbst beteiligte. Polizei-Oberrat Hoffmann 1956: „Nach der sogenannten Machtergreifung 1933 wurden durch die Frankfurter SA Aktionen gegen politisch Andersdenkende, Juden usw. durchgeführt. Hierbei war Herr Beckerle häufig persönlich anwesend. Er selbst soll auch bei den bekannten Misshandlungen in der Jugendarbeitsstätte in der Ginnheimer Strasse zugegen gewesen sein. Weiterhin wurde seiner Zeit davon gesprochen, dass der später [1934] zum Tode verurteilte [Kommunist Josef] Reitinger im Gebäude der SA-Gruppe Hessen (damals noch am Schaumainkai) in Anwesenheit des Herrn Beckerle durch Folterungen zu dem Geständnis erpresst worden sei, den SA-Mann Handwerk erschossen zu haben.“
Bei der blutigen Säuberungsaktion der NS-Führung am 30. Juni 1934 hatte Beckerle Glück. Er stand zwar auf einer der schwarzen Listen, angeblich existierte sogar ein von Göring unterschriebener Erschießungsbefehl. Dank der Protektion des SA-Führers Viktor Lutze und möglicherweise wegen der Dankesschuld Werner Bests entging er dem großen Morden und blieb Polizeipräsident bis 1939. In dieser Zeit hatte er zahlreiche Ehrenämtern, unter anderem war er Mitglied des deutschen Olympischen Komitees und ehrenamtlicher Beauftragter des Reichssportführers. Im Februar 1935 heiratete der als kunstsinniger Musikliebhaber auftretende SA-Führer die Schauspielerin Silke Edelmann, und bezog Ende der dreißiger Jahre mit der noblen Villa des emigrierten Dr. Oswald Feis ein nach seiner Ansicht standesgemäßes Domizil.
Unklar ist Beckerles Rolle bei der so genannten Reichspogromnacht. Er selbst war an dem Abend des 9. November 1938 in der Gedenkveranstaltung zum 9. November 1923 in München, wo Goebbels die anwesenden NSDAP-Mitglieder und SA-Führer zum Pogrom aufstachelte. Beckerle sei erst am nächsten Tag in Frankfurt eingetroffen; Zeugen in seinem späteren Verfahren wollten ihn jedoch gesehen haben, wie er die zerstörten jüdischen Geschäfte in der Frankfurter Innenstadt besichtigte und auch Polizeibeamte zu den in der Festhalle inhaftierten Frankfurter Juden schickte. Wie sich der damalige NS-Oberbürgermeister der Mainmetropole Friedrich Krebs in seiner Vernehmung zur Rolle Beckerles bei der Reichspogromnacht im Jahre 1960 erinnern wollte, habe er Beckerle allerdings an den Brandstätten der Synagogen nicht gesehen. Er wisse nicht, ob Beckerle mit diesen von Gauleiter Sprenger auf Weisung von Goebbels angeordneten Brandanschläge etwas zu tun gehabt habe, aber: „Ich möchte allerdings annehmen, dass er kein besonderer Freund der Juden war“. Dennoch: „Im übrigen halte ich es für ausgeschlossen, dass sich der Angeschuldigte während seiner Tätigkeit als Polizeipräsident in dieser Weise betätigt hätte. Dazu war er m. E. ein zu beamtenmässiger Typ“.
1939, nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wurde Beckerle für einige Monate kommissarischer Polizeipräsident von Lodz, diente als Leutnant der Reserve einige Monate an der Westfront, bevor er im Juni 1941 in den Auswärtigen Dienst berufen wurde. Von Ende Juni 1941 bis zu seiner Gefangennahme am 18. September 1944 durch die „Rote Armee“ wirkte er als Deutscher Gesandter in Sofia. Bulgarien war zu dieser Zeit einer der Satellitenstaaten, die der deutschen Besatzungsmacht bei der Deportation ihres jüdischen Bevölkerungsteils willig entgegen kamen. Beckerle zeichnete verantwortlich für die Deportation von über 11.000 Juden aus Mazedonien und Thrakien in die Vernichtungslager im besetzten Polen.
Juristische Folgen nach 1945
In Abwesenheit wurde Beckerle, von dem bekannt war, dass er in der Sowjetunion inhaftiert war, am 22. März 1950 durch die Zentralspruchkammer Süd-Hessen als Hauptschuldiger eingestuft und unter Berücksichtigung der bis dato in Russland erlittenen Internierungshaft zu drei Jahren Arbeitslager verurteilt und sein Vermögen eingezogen. Seine in Frankfurt im arisierten Haus lebende Ehefrau beging Ende 1951 Selbstmord, nachdem das Haus an die in England lebende Familie Feis zurückgegeben werden musste. Beckerle selbst konnte im Oktober 1955 nach Frankfurt zurückkehren, wo er bis zu seiner Festnahme 1959 zunächst unbeschadet als Abteilungsleiter bei den Generatoren- und Motorenwerken A. van Kayck in Neu-Isenburg arbeitete.
Unbemerkt war die Rückkehr des berüchtigten „Alten Kämpfers“ allerdings nicht geblieben. Als skandalös empfanden es viele Zeitgenossen, dass der einstige SA-Führer bei seiner Rückkehr vom Frankfurter Oberbürgermeister Kolb auf den Stufen des Rathauses mit Handschlag empfangen worden war. Angeblich hatte er von der Stadt sogar 6.000 D-Mark finanzielle Unterstützung erhalten. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) erstattete am 27. Juli 1956 Anzeige gegen Beckerle wegen Mordes, Totschlags, gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge, Brandstiftung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dieses erste Verfahren, das sich mit Beckerles Rolle als SA-Führer während der „Machtübernahme“ und seiner Zeit als Polizeipräsident befasste, stellte die Frankfurter Staatsanwaltschaft im April 1957 ergebnislos ein, da die Taten entweder verjährt waren oder nicht nachgewiesen werden konnten. Auf Anweisung des hessischen Generalstaatsanwalts Dr. Fritz Bauer ermittelte die Behörde jedoch gegen Beckerle wie auch den ehemaligen Legationsrat im Reichaußenministerium Fritz-Gebhardt von Hahn wegen ihrer Rolle bei der Deportation der Juden aus Bulgarien und erließ im September 1959 einen ersten Haftbefehl. Bei dem im November 1967 beginnenden Prozess trat Beckerle als unbelehrbarer Nationalsozialist auf und provozierte die mit dem Fall betrauten Juristen. Durch geschicktes Taktieren seines Anwalts wurde das Verfahren gegen Beckerle schließlich aus Krankheitsgründen am 19. August 1968 eingestellt. Beckerle starb am 3. April 1976 in Frankfurt.
Literatur und Quellen
Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1959-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn-München-Wien-Zürich 2002
Spruchkammerakte Adolf Heinz Beckerle, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden
Akten des Gerichtsverfahren gegen Adolf Heinz Beckerle im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 631a.
Anzeige der VVN-Frankfurt gegen Adolf Heinz Beckerle vom Juli 1956
Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 631a, Nr. 571
Am 8. November 1967 begann in Frankfurt unter ungewöhnlich starkem Zuhörerandrang ein Verfahren wegen „Nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“. Im Vergleich zu früheren Verhandlungen, zum Beispiel dem 1. Auschwitzprozess 1963, stand erstmals kein ortsfremder Angeklagter vor Gericht. Wegen seiner Rolle bei der Deportation der bulgarischen Juden in die Vernichtungslager musste sich der frühere Frankfurter SA-Führer und Polizeipräsident Adolf Heinz Beckerle vor dem Schwurgericht verantworten. An ihn konnten sich noch viele Frankfurter aus den Jahren der gewaltsamen politischen Auseinandersetzungen vor 1933 erinnern. Mit der „Machtergreifung“ 1933 hatte der verkrachte Student und „Alte Kämpfer“ der NSDAP eine steile Karriere gemacht, die ihn bis ins Auswärtige Amt führte.