„Ich war der Erste von allen Überlebenden, der gerettet wurde“ - Luftmine zerstört Kinderkrankenhaus Gagernstraße

Das zerstörte Hilfskrankenhaus der Universitätsklinik im Krankenhauskomplex Gagernstraße nach dem 4. Oktober 1943, zeitgenössische Fotografie

Bergungsarbeiten in der Gagernstraße nach dem 4. Oktober 1943, zeitgenössische Fotografie

Durch einen Volltreffer des Luftschutzkellers getötete Kinder nach dem 4. Oktober 1943, zeitgenössische Fotografie

Durch einen Volltreffer des Luftschutzkellers getötete Kinder nach dem 4. Oktober 1943, zeitgenössische Fotografie

Beim ersten Großangriff der Royal Air Force auf Frankfurt sterben am 4. Oktober 1943 im Kinderkrankenhaus an der Gagernstraße 112 Zivilisten, darunter 84 Kinder, 14 Krankenschwestern und ein Arzt.

Die Zerstörung der Kinderklinik im Hilfskrankenhaus an der Gagernstraße ist eine der schrecklichsten Tragödien, die sich während des Luftkriegs in Frankfurt am Main ereignet haben. Das von der Israelitischen Gemeinde erbaute Krankenhaus kam 1939 mit den so genannten "Judenverträgen" für 900.000 Reichsmark in den Besitz der Stadt, konnte aber von der Jüdischen Gemeinde für die Dauer von drei Jahren gemietet werden. Im Sommer 1942 wurden auf Betreiben des Stadtgesundheitsamts Patienten, Schwestern, Pfleger, Ärzte und das Hauspersonal in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Anschließend übernahm das Hospital zum Heiligen Geist die Einrichtung und gestaltete sie in eine Kinderklinik mit 127 Betten um.

Als die Luftschutzsirenen am Abend des 4. Oktober 1943 losheulten, begannen die Schwestern im Kinderkrankenhaus an der Gagernstraße sofort damit, die ihnen anvertrauten Patienten in die unterirdischen Luftschutzräume zu verlegen. Bei dem Flächenbombardement wurde das Gagernkrankenhaus von zahlreichen Brandbomben getroffen. Die Schwestern versammelten ihre Schutzbefohlenen gerade in der Gasschleuse, um sie vor den Flammen in Sicherheit zu bringen, als eine Luftmine den Gebäudekomplex traf und die Luftschutzkeller zum Einsturz brachte.

Fieberhaft suchten die von Soldaten der Wehrmacht unterstützten Rettungsmannschaften der "Luftschutzpolizei" zwei Tage unter den Trümmern nach Überlebenden. Der neunjährige Rolf Meier aus Niederrad wurde mit schweren Gesichtsverletzungen als Erster entdeckt und gerettet, weitere 25 Kinder hatten ebenfalls Glück im Unglück und kamen noch einmal mit dem Leben davon. Der Nachtangriff der Royal Air Force forderte in dem Bornheimer Kinderkrankenhaus 112 Menschenleben, darunter 84 Kinder, 14 Krankenschwestern, ein Arzt und fünf als Luftschutzwache abgeordnete Mitarbeiter der Stadtwerke.

Die NS-Presse berichtete unter der Schlagzeile "Der Frankfurter Kindermord!" über den Großangriff. Demnach waren die Kinder einem "gemeinen Mordanschlag" zum Opfer gefallen, der die Grausamkeit des Feindes offenbarte. Mit Fotografien der in einem Krankenhausflur abgelegten Kinderleichen wurde der Hass auf die Kriegsgegner geschürt. Die Leichenbilder aus dem Kinderkrankenhaus sind die einzigen während des Krieges publizierten Fotos Frankfurter Luftkriegsopfer. In manchen Todesanzeigen verzweifelter Eltern mischte sich in die Trauer um das getötete Kind der Wunsch nach Vergeltung: "Britische Terrorflieger mordeten am 4. Oktober 1943 in der Kinderklinik unser herziges, braves und unvergeßliches Kind, unseren Sonnenschein und ganzes Glück, mein braves, gutes Schwesterlein Ingeborg Giehl im Alter von 8 Jahren. Unsere Trauer endet an dem Tage, da der Tod unseres Kindes gesühnt wird."1

Indem sie den Einsatz von NSDAP- und SA-Mitgliedern bei den Rettungsarbeiten besonders hervorhob, stilisierte die Presse die Parteigenossen zu Rettern der überlebenden Kinder. Tatsächlich erforderte die Bergung Verschütteter Spezialisten - aus Bergleuten gebildete Einsatzbereitschaften trieben oft unter Lebensgefahr Stollen zu den unter Trümmern begrabenen Bombenopfern voran.

Im Herbst 2008 erinnerte sich der inzwischen 75 Jahre alte Rolf Meier an die Schreckensnacht im Oktober 1943 und hielt das Erlebte schriftlich fest: Wegen einer Scharlach-Erkrankung lagen Rolf und sein jüngerer Bruder Horst Meier seit September 1943 im Kinderkrankenhaus an der Gagernstraße. Die Brüder befanden sich am Abend des 4. Oktober 1943 mit den anderen Kindern im Luftschutzraum als das Unheil seinen Lauf nahm:

"Plötzlich ertönte ein immer näher kommendes gleichmäßiges, aber bedrohlich klingendes Brummen, vermischt mit Detonationsgeräuschen der Luftabwehrgeschütze und auch Geräusche von explodierenden Bomben in nächster Umgebung. Das Licht ging aus, sofort fingen die Kleinen wieder an zu weinen. Ich merkte wie Horsti neben mir zitterte, aber sonst ruhig blieb. [...]

Plötzlich stürmte unser Hausmeister mit einem Handscheinwerfer und Stahlhelm auf dem Kopf in unseren Keller und schrie: 'Alle Kinder in die Gasschleuse, die oberen Stockwerke brennen lichterloh, alle Schwestern und Erwachsenen kommen mit mir. Alle Türen der Gasschleuse geschlossen halten.' Die Gasschleuse war ein zentral gelegener Vorraum im Keller mit feuerfesten Türen und Abdichtung gegen Rauch und eventuell Gasgefahr. Wir waren kaum in der Gasschleuse, als ein scharf zischendes, rauschendes Geräusch auf die Ohren drückte. Ein für mich damals nicht zu beschreibender Explosionsknall verbunden mit dem Gedröhn zusammenstürzenden Mauerwerks. Mit einem wie von einer Hochdruckpresse erzeugten Gewaltschlag auf Kopf und Körper wurde ich zusammengepresst.

Zu diesem Zeitpunkt [...] hatte ich meinen Bruder Horsti fest an mich gepresst auf meinem Schoß. Kurz nach dem Explosionsknall hörte ich ihn noch mit weinerlich gequälter Stimme jammern: 'Rolfche!' Dann war unheimliche Stille. Nur das nachlassende Brummen der abfliegenden Bomber und das Schwanken des Untergrundes war zu spüren. Ich wurde bewusstlos.

Als ich wieder zu mir kam, ich weiß nicht wie lange nach dem Einschlag, fühlte ich wie mir Blut vom Kopf übers Gesicht lief. [...] Mittlerweile konnte ich vereinzelt Weinen, Wimmern auch Schreien und Stöhnen wahrnehmen. Zunehmend aber verstummten die Geräusche. Es herrschte Totenstille. Nur ab und zu vernahm ich ein Poltern des nachrutschenden Gesteins, das aber auch immer ein Mehr des Druckes auf meinen total zugeschütteten Körpers brachte. [...]

Ich wusste meinem Gefühl nach, dass Horsti nicht mehr lebte. Dies löste bei mir heftige Weinkrämpfe aus. Ich schrie öfter, wenn ich mir einbildete Geräusche von außen zu hören, so laut ich konnte um Hilfe. Ich brüllte meinen Namen in die Stille. Keine Antwort. Teilweise litt ich unter Todesangst und Atemnot. Die Verletzungen auf meinem Kopf fingen wieder an zu bluten. Lange, lange Zeit später, ich weiß nicht, ob ich eingeschlafen war vor Erschöpfung oder bewusstlos, ich erwachte und hörte Geräusche sowie menschliche Stimmen. Laute Zurufe. Sofort versuchte ich mich laut schreiend bemerkbar zu machen. 'Hallo', klang es von außen. 'Wie heißt Du? Hab keine Angst, wir holen dich raus!' Ich brüllte immer wieder meinen Namen. Auf einmal hörte ich ein Geräusch, das wie das Rattern eines Presslufthammers klang. Ich geriet noch mehr in Panik. [...]

Auf einmal ein richtig frischer Luftzug in meinem Gesicht. Es erhellte sich vor meinen Augen; obwohl ich die gar nicht öffnen konnte. Ich war draußen und gerettet. Als ich richtig an die Luft kam, wurde ich aber sofort wieder bewusstlos. Ich war der Erste von allen Überlebenden, der gerettet wurde."2

An den Gesichtsverletzungen litt Rolf Meier zeitlebens.

Anmerkungen:
1 Die Todesanzeige ist abgebildet bei: Gustav K. Lerch, Frankfurt am Main im Luftkrieg, Bd. 5: Oktober 1943. Fliegende Festungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 67.
2 Rolf Meier, Erinnerungsbericht vom 1. Dezember 2008, S. 5-8.

Literatur:
Bauer, Thomas, "Terror in Quelle Siegfried 5" - Luftschutz und Luftkrieg in Frankfurt am Main 1933-1945, in: HEIMAT/FRONT. Frankfurt am Main im Luftkrieg, hrsg. von Michael Fleiter, Frankfurt a. M. 2013, S. 26-47

Beim Großangriff vom 4. Oktober 1943 tötet eine Luftmine 90 Kinder, 14 Schwestern und eine Ärztin.



Autor/in: Thomas Bauer
erstellt am 28.08.2019
 

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Luftmine


Royal Air Force

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Kinderkrankenhaus Gagernstraße

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