Zwangsarbeit in den Werken Höchst, Griesheim und Cassella/Mainkur der I.G. Farbenindustrie AG 1940–1945

Das Russenlager an der Mainzer Landstraße im Werk Höchst der I.G. Farbenindustrie AG

Ankunft von Ostarbeiterinnen ca. 1943 im Werk Höchst der I.G. Farbenindustrie AG

1940 begannen die Frankfurter IG-Farben-Werke, Kriegsgefangene und angeworbene oder zwangsverpflichtete Zivilarbeiter aus fast ganz Europa einzusetzen. Bis 1945 belief sich ihre Zahl auf etwa 10.000. Arbeits- und Lebensbedingungen unterschieden sich deutlich je nach Status der Beschäftigten (Westarbeiter, Ostarbeiter, Kriegsgefangene).

 

In den drei Frankfurter Werken der I.G. Farbenindustrie AG, die innerhalb des Unternehmens zusammen mit den Werk Offenbach, Kalle in Wiesbaden und Behring in Marburg die von Frankfurt a. M-Höchst aus geführte Betriebsgemeinschaft Mittelrhein bildeten, waren von 1940 bis 1945 insgesamt etwa 10.000 Fremd- und Zwangsarbeiter eingesetzt. Diese kamen aus nahezu allen Ländern Europas, die zu einem kleineren Teil während des Zweiten Weltkrieges mit dem nationalsozialistischen Regime des Deutschen Reiches verbündet, in der Mehrzahl aber von der deutschen Wehrmacht besetzt waren.

 

Die ersten Nachrichten über den Einsatz von Fremd- und Zwangsarbeitern in den drei Chemiewerken datieren bereits vom März 1940. Damals finden sich in den Direktionsbesprechungen erstmals Überlegungen, als Ersatz für die zur Wehrmacht eingezogenen deutschen Arbeitskräfte sowohl Zivilarbeiter aus der mit Deutschland verbündeten Slowakei als auch polnische Kriegsgefangene anzufordern. Nach dem Ende des Frankreichfeldzuges im Juni 1940 kamen zunächst polnische und französische Kriegsgefangene, ab 1941 auch Zivilarbeiter aus Italien, Frankreich, Belgien, Dänemark und den Niederlanden in die Werke der I.G. Farbenindustrie AG nach Frankfurt. Nach Beginn des Russlandfeldzuges im Juni 1941 kamen alsbald Kriegsgefangene und angeworbene Zivilarbeiter aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion, aber auch aus verbündeten Satellitenstaaten des Deutschen Reiches wie Kroatien und Bulgarien in die drei Werke. Als durch die Anwerbungen in Osteuropa nicht genügend Arbeitskräfte zusammen kamen, wurden die Menschen vielfach unter Zwang einfach verschleppt. Insgesamt waren bei der I.G. Farbenindustrie AG in Frankfurt Menschen aus mehr als 20 Ländern, dazu Volksdeutsche aus den besetzten Gebieten Osteuropas und als „Staatenlose“ bezeichnete im Arbeitseinsatz.

 

Der Rechtsstatus dieser Menschen war sehr unterschiedlich und reichte von angeworbenen und relativ freiwillig gekommenen „Fremdarbeitern“, überwiegend aus Westeuropa, bis zu den nahezu rechtlosen und unter Zwang nach Deutschland verbrachten „Ostarbeitern“, die meist aus der Ukraine und den weiteren Gebieten der Sowjetunion kamen. Dazwischen gab es zahlreiche weitere Gruppierungen, zu denen ab 1943 auch die italienischen Militärinternierten zählten, die alle eine ganz unterschiedliche Behandlung erfuhren.

 

Während die so genannten „Westarbeiter“ Anspruch auf Tariflohn und Urlaub hatten und in offenen Lagern und Unterkünften wohnten, waren die „Ostarbeiter“ außerhalb der Arbeitszeit hinter Stacheldraht kaserniert und zahlreichen, auf der Rassenideologie der Nazis basierenden, Diskriminierungen ausgesetzt. Auch wurde der von der I.G. Farbenindustrie AG an diese Gruppen gezahlte Tariflohn den „Ostarbeitern“ durch Kosten für die Unterkunft und Sonderabgaben weitgehend vorenthalten. Häftlinge aus Konzentrationslagern gab es, entgegen vereinzelt geäußerter Meinungen in der Literatur, in den Werken der I.G. Farbenindustrie AG in Frankfurt a. M. höchstwahrscheinlich nicht. Gemeinsam war allen Gruppen, dass sie in den beiden letzten Kriegsjahren allesamt die harte Hand des Regimes zu spüren bekamen. Das drückte sich in Urlaubssperren, erhöhter Arbeitszeit und schlechtem Essen bei hohen Leistungsanforderungen aus. Für diese Zeit ist die Bezeichnung „Zwangsarbeiter“ für nahezu alle in Deutschland arbeitenden Ausländer durchaus gerechtfertigt, auch wenn die „Ostarbeiter“ und die italienischen Militärinternierten weiterhin die schlechteste Behandlung erdulden mussten.

 

 

In Höchst wurden die Fremd- und Zwangsarbeiter in insgesamt sechs Lagern, meist aus Barackenbauten bestehend, untergebracht: Am Westrand der Fabrik, zwischen Höchst und Sindlingen lagen das „Italienerdorf“, das „französische Kriegsgefangenenlager“ und das „russische Frauenlager“. Im benachbarten Stadtteil Zeilsheim reihten sich entlang der Straße Pfaffenwiese die Lager „Pfaffenwiese 52“, „Pfaffenwiese/Annabergstraße“ und „Pfaffenwiese 300“. Die Lager waren mit Zäunen, zum Teil auch mit Stacheldraht umwehrt und verfügten über eine eigene Infrastruktur mit Küchen, Waschräumen, Bekleidungsdepots, Werkstätten etc. In Griesheim und beim Werk Cassella/Mainkur waren die ausländischen Arbeitskräfte in Wirtshaussälen, Schulen und verschiedenen Unterkünften in der Fabrik untergebracht.

 

Die mit Abstand größte Anzahl der Fremd- und Zwangsarbeiter kam im I.G.-Werk Höchst zum Einsatz. Insgesamt sind hier 8.173 Menschen namentlich bekannt. Die tatsächliche Gesamtzahl dürfte noch um einige 100 darüber, bei rund 8.500 liegen. Allerdings kam eine derart hohe Zahl niemals gleichzeitig zum Einsatz. Die vereinzelt überlieferten Monatsstichzahlen belegen eine gleichzeitige Anwesenheit von 2.500 bis circa 3.000 Personen, so im Oktober 1944 eine Gesamtzahl 3.163 ausländischen Arbeitern, in Höchst. Eine sehr hohe Fluktuation, das Verschieben von Arbeiterkontingenten zwischen verschiedenen Orten durch die Deutsche Arbeitsfront und die Behörden, Nichtrückkehr vom Urlaub, Ausfall durch Krankheit, Flucht und Inhaftierung durch die Gestapo sorgten für eine ständige Bewegung innerhalb der ausländischen Belegschaft.

 

Aus dem I.G.-Werk Griesheim hat sich eine Originalkartei der ausländischen Arbeiter, die gleichermaßen West- und Ostarbeiter umfasst, erhalten. Sie enthält 984 Namen, größtenteils mit Lichtbild und aufschlussreichen Bemerkungen zur Person. Aus dem I.G.-Werk Mainkur, bekannter unter dem Namen Cassella, sind weder Namen noch Melderegister von Fremd- und Zwangsarbeitern erhalten. In den Akten des Cassella-Archivs findet sich nur eine einzige Zahl aus der Kriegszeit, die 101 ausländische Arbeiter nennt. Zeitzeugen berichten jedoch von „einigen 100“ ausländischen Arbeitern, die im I.G.-Werk Mainkur tätig waren. Dies würde den Zahlen aus Griesheim nahekommen, wo man annehmen kann, dass jeweils 300 bis 400 Fremd- und Zwangsarbeiter gleichzeitig im Einsatz waren.

 

Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Zwangsarbeit in den Frankfurter Werken der I.G. Farbenindustrie AG liegt zur Zeit der Abfassung dieser kurzen Übersicht (Juli 2003) noch nicht vor. Im Frühjahr 2004 wird jedoch von dem Münchner Privatdozenten Stephan Lindner beim Beck-Verlag München eine detaillierte Studie unter dem Titel „Höchst Angepasst – Ein I.G.-Farbenwerk im ,Dritten Reich‘“ erscheinen, in der das Thema Zwangsarbeit ausführlich erörtert wird. Quellen zur Zwangsarbeit bei der I.G.-Farbenindustrie AG in Frankfurt am Main finden sich vor allem im „Hoechst Archiv“ der HistoCom GmbH in Frankfurt a. M.-Höchst (E-mail: service@histocom.de), im Stadtarchiv Frankfurt am Main, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und in weiteren Archiven der Bundesrepublik Deutschland.

1940 begannen die Frankfurter IG-Farben-Werke, Kriegsgefangene und angeworbene oder zwangsverpflichtete Zivilarbeiter aus fast ganz Europa einzusetzen. Bis 1945 belief sich ihre Zahl auf etwa 10.000. Arbeits- und Lebensbedingungen unterschieden sich deutlich je nach Status der Beschäftigten (Westarbeiter, Ostarbeiter, Kriegsgefangene).



Autor/in: Wolfgang, Dr. Metternich
erstellt am 01.01.2003
 

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