Dokument: Zeitungsartikel zum Auschwitz-Prozess vom 3. April 1964

Der Zeuge Leo Paul Scheidel erläutert die „Boger-Schaukel“, 1963

Zeitungsbericht über Zeugenaussagen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Grausamkeiten des Angeklagten Wilhelm Boger.

 

Wenn das Staatsschaf zum Wolf wird
[…] Etwa 20 Zeugen haben bisher im Auschwitz-Prozeß ausgesagt. Zwölf von ihnen haben den Angeklagten Boger schwer belastet. Zuvor hatten der Wiener Arzt Otto Wolken und die Wiener Ärztin Ella Lingens, beide Häftlingsärzte in Auschwitz, in mehrstündigen Aussagen dem Gericht den Alltag im Vernichtungslager geschildert. Den Anwesenden zogen die im Gerichtssaal mit ruhiger Stimme vorgetragenen Schilderungen des Grauens die Kehle zusammen. Und mancher Zuhörer schämte sich nicht, den Tränen freien Lauf zu lassen.

 

„Meine Sprechmaschine bringt dich zum Reden“
Nach diesen Ausführungen über das Martyrium von Auschwitz glaubte man, es könne nicht schlimmer kommen. Doch weit gefehlt. Da erscheint Maryla Rosenthal aus Zürich, eine heute 55jährige Dame, gezeichnet von dem Erleben in Auschwitz. Sie war dort Dolmetscherin und Schreiberin von Boger, den sie „den Teufel von Birkenau“ nannten. Zwei weitere Zeugen, der Gastwirt Leeuwarden und der Schlachtermeister Breiden, berichten, wie sie selbst von Boger mißhandelt wurden, und da sind die anderen, die gesehen haben, wie Boger wütete.

 

Maryla Rosenthal: „Wenn die Häftlinge nichts aussagen wollten, ist Boger ganz dicht an sie herangetreten und hat ihnen erklärt: ,Meine Sprechmaschine wird dich schon zum Reden bringen.‘ Dann verschwand er mit ihnen im Nebenraum. Man hörte furchtbare Schreie. Nach einer oder mehreren Stunden wurden die Opfer auf der Bahre herausgetragen. Sie sahen nicht mehr wie Menschen aus, und ich habe sie nicht mehr wiedererkannt.“

 

Bogers „Sprechmaschine“ die berüchtigte „Boger-Schaukel“, führt der Zeuge Leo Scheidel dem Gericht im Modell vor: Dem Häftling wurden die gefesselten Hände über die Knie gezogen. Zwischen Armen und Kniebeuge wurde eine Stange durchgezogen, an der er wie an einem Reck aufgehängt wurde. Peitschenschläge brachten dann den Häftling zum „Schaukeln“. Wer diese Folter lebend überstand, dem waren „die Hände abgescheuert, das Gesäß in Fetzen, das Gesicht voll Blut“. Die Zeugen nennen die Namen der Opfer; Boger wird weiß und starr.

 

Doch nicht nur Folterungen haben die Zeugen gesehen, sie haben auch erlebt, daß Boger Häftlinge eigenhändig erschossen hat – nicht nur bei Exekutionen an der „Schwarzen Wand“. Der Lagerälteste Diamanski schildert dem Gericht, wie „Herr Boger“ die Prager Journalistin Novotny erschoß, als sie kurz vor ihrer Vergasung „dem Tod“ ihre Verachtung ins Gesicht schrie.

 

Wer ist dieser Wilhelm Boger? Wie wurde er überhaupt zum Mörder? Wie kam er auf die Anklagebank in Frankfurt?

 

Wilhelm Boger wurde 1906 in Stuttgart als Sohn eines Kaufmanns geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg ist er bald arbeitslos und tritt der NSDAP bei. „Ich bin ein alter Hase der nationalsozialistischen Bewegung.“ Schon 1930 Mitglied der SS, wird er nach der Machtergreifung 1933 als „alter Kämpfer“ in die württembergische Kriminalpolizei als Hilfspolizist übernommen. 1937 ist er bereits Kriminalkommissar und wird noch in Friedenszeiten bei der Gestapo eingesetzt.

 

Seine Vorgesetzten sind offenbar sehr mit ihm zufrieden. In Rußland wird er als Angehöriger einer SS-Division verwundet und kommt nach seiner Genesung 1942 nach Auschwitz. Dort ist der SS-Oberscharführer als Ermittlungsbeamter bei der Lager-Gestapo, der Politischen Abteilung, tätig.
Nach dem Krieg verhaften ihn die Amerikaner 1946 in Stuttgart. Er soll nach Polen ausgeliefert werden, doch gelingt ihm die Flucht. Drei Jahre verbirgt er sich bei einem Bauern im Schwäbischen. Dann wird er 1949 festgenommen: Er soll als Kriminalbeamter 1936 einen Landwirt mißhandelt haben. Doch das Verfahren wird eingestellt. Er lebt weiter unter seinem Namen in Württemberg, zuletzt als kaufmännischer Angestellter in Stuttgart. Niemand „verrät“ ihn. „Da zeigte sich noch, daß die Deutschen zusammenhielten, denn sie kannten mich alle“, sagt Boger vor Gericht stolz, und deswegen werde er schweigen.

 

Durch Zufall erfährt ein gewisser Hermann Langbein 1958, daß Boger in Stuttgart lebt. Am 9. Mai erstattet er Anzeige und übergibt der Staatsanwaltschaft Anschriften von Zeugen und weitere Unterlagen. […]

 

 

„Folterungen: Wilhelm Bogers Fleißaufgaben“

[…] Am 8. Oktober 1958 wird Boger verhaftet. Vor dem Frankfurter Schwurgericht schweigt Boger zunächst zu den Zeugenaussagen. Dann erklärt er zu den ihm zur Last gelegten Erschießungen: „Das ist in keinem Falle richtig“ und „Ich hatte kein Gewehr in Auschwitz und schoß auch nie aus meiner Pistole auf Menschen.“

 

Erschießungen, Exekutionen hätten gar nicht zu seinem Aufgabenbereich gehört. Gleichzeitig brüstet er sich, daß die Zahl der Fluchten in Auschwitz zu seiner Zeit am niedrigsten gewesen sei. Der Zeuge Wolken spricht von den fürchterlichen „Fleißaufgaben“ der SS-Leute. Zeuge Langbein bekundet, Boger habe ihm immer den Eindruck gemacht, als ob er mit wahrer Jagdleidenschaft Jagd auf Häftlinge machte.

 

Boger in Frankfurt, als ihm seine Foltermethoden vorgehalten werden: „Ich hatte den Befehl, verschärfte Vernehmungen durchzuführen. In dem Moment, wo das Blut aus den Hosen herauslief, ist die Vernehmung abgebrochen worden. Es dürfte sich um Widerstandsfälle gehandelt haben. Der Häftling ist wohl mit Sicherheit erschossen worden. Der Zweck der verschärften Vernehmung war erreicht, wenn das Blut durch die Hosen lief. Ich habe nicht totgeschlagen, ich habe Befehle ausgeführt. Die verschärfte Vernehmung ging ja doch nicht unter Körperverletzung im Amt. Sie mögen lachen dort oben, Sie waren ja nicht dabei.“

 

Es ist unerträglich, dieses dummdreiste Gerede mit anhören zu müssen. Dieser Mensch versteht immer noch nicht, warum er hier auf der Anklagebank sitzt. Er, „der Erfinder“, der Fachmann, der treue Diener des „Staates“. Er hat übrigens auch den heutigen Polizisten noch etwas zu sagen, als Experte, als Kollege: „Ich bin der Auffassung, daß in manchen Fällen heute noch die Prügelstrafe angebracht wäre, zum Beispiel im heutigen Jugendstrafrecht.“

 

Man wird sagen: Ein Sadist, der auf jeden Fall zum Mörder geworden wäre, ein Krimineller mit oder ohne Nazis. Ich bin nicht so sicher. Ich kann mir einen Wilhelm Boger vorstellen, der als kaufmännischer Angestellter alt wird. Der keine Grünflächen betritt, weil das in Deutschland verboten ist, und der höchstens am Stammtisch kundtut, was er tun würde, wenn er was zu sagen hätte. Ist dieser Boger nicht der Prototyp des Werkzeugs, das nur tätig wird, wenn es von jemandem benutzt wird? Ein Mann, der nicht selber denkt, der gehorcht, und zwar blind wie ein Schaf: der Obrigkeit, dem Führer, dem Staat, Hitler, Stalin, Mao oder dem „großen Bruder“. Das entschuldigt ihn nicht, sondern läßt ihn als Prototyp einer besonderen Art von Mördern erscheinen, die womöglich gefährlicher sind als die gemeinen: Sie morden nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es sollen.

 

Dieser Wilhelm Boger ist der Geführte, der stille Untertan, das Staatsschaf, das zum Wolfe wird, wenn die hohe Obrigkeit oder der Führer es ihm befehlen. Hat er aber einen Befehl erhalten, dann wird er ehrgeizig, dann will er zeigen, was für ein Held er ist. Er stellt sich selber Fleißaufgaben und wird zum Aktivsten der Befehlsausführung. „Die sollen einmal sehen, was ich kann, was ich für ein Kerl bin.“
Wäre der Untertan Wilhelm Boger sein Leben lang kaufmännischer Angestellter geblieben, er hätte wahrscheinlich von der „Boger-Schaukel“, von seinen Mißhandlungen nicht einmal geträumt, niemanden gequält oder gar erschossen – ja er hätte nicht einmal eine Schußwaffe besessen, weil deren Besitz gemeinhin verboten ist. Er hätte seine staatsbürgerliche Pflicht aber vermutlich darin gesehen, der „Polizei“ dienstbar zu sein. Man kann ihn sich vorstellen, wie er nach Feierabend am Fenster sitzt und alle Autofahrer sorgfältig aufschreibt, die ein Verkehrsschild vor seiner Haustür nicht beachten. Jeden Monatsersten schickt er dann die Liste der Sünder zur Polizei in dem Bewußtsein, für Zucht und Ordnung im Staate gesorgt zu haben. Ein zuverlässiger, ein treuer, ein eifriger Bürger und Biedermann. Wieviele von ihnen mag es geben, nicht nur in Deutschland, die zufällig nicht zu Mördern wurden.
Diese übergehorsamen Untertanen zu mündigen Menschen und Staatsbürgern zu machen und zu verhindern, daß sie je zu Werkzeugen falscher „Obrigkeiten“ werden, das ist die Aufgabe, die die KZ-Prozesse uns stellen. Und nicht zuletzt deshalb sind sie notwendig.

 

 

Peter Jochen Winters

 

 

Christ und Welt vom 3. April 1964, zitiert nach: Monica Kingreen, Der Auschwitz-Prozess 1963–1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung, (Pädagogische Materialien Nr. 8, Fritz Bauer Institut), Frankfurt am Main, 2004, S. 52f.

Zeitungsbericht über Zeugenaussagen im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Grausamkeiten des Angeklagten Wilhelm Boger.


erstellt am 01.01.2006
 

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