Dokument: Zeitungsartikel zum Auschwitz-Prozess vom 14. April 1964

Zeitungsbericht über eine Zeugenaussage im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Grausamkeiten des NS-Personals gegenüber Kindern.

 

„Wo Schuld ist, muß auch Strafe sein“ Ein polnischer Offizier berichtet von furchtbaren Greueln an Kindern

 

Das ist wahrscheinlich mit das Furchtbarste, was hier berichtet wurde. Es ist kaum faßbar. „Haben Sie dies wirklich gesehen?“ fragte der als Nebenkläger auftretende Rechtsanwalt Raabe den ehemaligen polnischen Berufsoffizier Jozef Piwko aus Chorzow (Königshütte).

 

„Ich widerrufe meine Aussage nicht“, erklärte mit fester Stimme der heute 71 Jahre alte Zeuge. Auch als ihm Landgerichtsdirektor Hofmeyer noch einmal eindringlich klarmachte, was die Aussage für den Angeklagten Boger bedeutet, sagte Piwko schließlich: „Wo Schuld ist, muß auch Strafe sein!“

 

„Wir können uns also darauf verlassen, daß dies die reine Wahrheit ist?“

 

„Ja“, antwortete der Zeuge und beschwor seine Aussage.

 

Der als politischer Häftling Anfang 1943 nach Auschwitz verschleppte ehemalige Berufsoffizier hatte dort im Sommer 1943 die Vernichtung des sogenannten Theresienstädter Lagers – eines jüdischen Familienlagers – sowie die Liquidierung des Zigeunerlagers miterlebt. Die Erinnerung an das furchtbare Geschehen übermannte ihn jetzt wieder im Gerichtssaal; er weinte zweimal und konnte nicht weitersprechen.

 

„Es war etwa drei bis vier Wochen nach den Ereignissen im Tschechenlager (Theresienstädter Lager)“, begann Piwko seine Schilderung von der Vernichtung des Zigeunerlagers. „Die Kinder kamen oft an den Draht, und wir steckten ihnen etwas zu. Als dann eines Tages die Autos kamen, gab es ebenfalls eine große Aufregung im Lager, denn die Zigeuner wußten jetzt, daß sie vergast würden. Sie hatten einen guten Nachrichtendienst, denn die SS-Leute hatten hübsche Zigeunerinnen als Freundinnen. Sie erzählten ihnen vieles.“

 

Der Zeuge berichtete dann, wie er sich aus Angst in einem Gebüsch versteckte und mit ansah, wie die Zigeuner unter Schlägen auf die Lastwagen getrieben und zur Vergasung fortgebracht wurden. Dann durchsuchten die SS-Leute die Baracken und schleppten noch etwa ein halbes Dutzend Kinder, sie waren vier bis sieben Jahre alt, hinaus zu dem Angeklagten Boger.

 

„Sie wurden zu Boger gebracht, der zunächst nach den Kindern trat, sie dann an den Beinchen faßte und mit dem Kopf an die Wand schleuderte.“

 

„Dies hat noch keiner berichtet. Sie waren Offizier! Sahen Sie dies mit eigenen Augen?“ will der Vorsitzende wissen.

 

„Ja, es waren fünf, sechs, sogar sieben. Es war schrecklich.“

"Waren sie tot?“

„Ich denke, ja!“

„Wie alt waren die Kinder?“

„Vier, fünf, bis sieben Jahre.“

„Was tat Boger sonst noch?“

„Ich habe sonst nichts mehr gesehen.“

 

„Sind Sie sicher, daß Sie Boger nicht mit einem anderen SS-Mann verwechseln?“ fragt Landgerichtsrat Persecke.

 

„Ich weiß es ganz genau, weil ich fast jeden Tag an der politischen Abteilung vorbeigehen mußte. Manchmal traf ich Boger, wenn er auf dem Fahrrad fuhr und einen Häftling an einer Schnur wie ein Hündchen hinterher zur politischen Abteilung zog. Ich habe ihn behalten, weil er das schlimmste Leid stiftete: Er liquidierte Kinder.“

 

Zuvor hatte der Zeuge geschildert, daß einige Wochen vorher das Theresienstädter Lager unter Mitwirkung von Boger ebenfalls auf diese furchtbare Weise geräumt und seine Insassen in die Gaskammern getrieben worden waren. Auch diese Armen seien entsetzlich geschlagen worden, und es hätten sich erschütternde Szenen abgespielt, weil sich die Frauen nicht von ihren Kindern trennen und lieber mit ihnen sterben wollten, anstatt in ein Arbeitskommando zu gehen.

 

Der Zeuge hatte in diesem Familienlager ein Magazin zu verwalten, und er betonte immer wieder, daß die Kinder sehr oft zu ihm gekommen seien. Es seien sehr nette Kinder gewesen, zwei bis drei Jahre alt. Die in diesem Lager untergebrachten Tschechen hätten es zunächst noch gut gehabt. Aber dann seien eines Tages die Lastwagen mit den SS-Männern gekommen und hätten sie alle mit furchtbaren Schlägen davongetrieben. Man habe noch zahlreiche junge, kräftige Mütter überreden wollen, sich von ihren Kindern zu trennen, weil man die Frauen noch als Arbeitskräfte verwenden wollte.

 

„Es waren viele junge, kräftige Frauen, die sehr geschlagen wurden, aber keine Mutter ließ ihr Kind allein. Sie gingen alle mit“, sagte der Zeuge mit Tränen in den Augen. Dann bittet er um eine kurze Pause, da er sich erst wieder beruhigen müsse.

 

„Angeklagter Boger! Haben Sie …“, beginnt der Vorsitzende, aber Boger fällt ihm mit einem „Nein!“ ins Wort.

 

„Haben Sie gar keine Erklärung abzugeben?“

„Nein!“

 

Erst als ihm der Vorsitzende eindringlich vorhält, daß ihn der Zeuge schwer beschuldigt habe, behauptet Boger, bei der Liquidierung des Zigeunerlagers nicht mitgewirkt zu haben. Er habe deshalb auch keine Kinder erschlagen können.

 

Kurt Ernenputsch

 

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. April 1964, zitiert nach Monica Kingreen, Der Auschwitz-Prozess 1963–1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung, (Pädagogische Materialien Nr. 8, Fritz Bauer Institut), Frankfurt am Main, 2004, S. 54f.

Zeitungsbericht über eine Zeugenaussage im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu Grausamkeiten des NS-Personals gegenüber Kindern.


erstellt am 01.01.2006
 

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