Der künstlerische Werdegang des jüdischen Komponisten Ericht Itor Kahns ist eng mit der Modernisierung und Dynamisierung des gesellschaftlichen wie kulturellen Lebens Frankfurts der Zwanziger Jahre verbunden. Der erste Teil des Beitrags zeichnet das Leben Kahns bis seiner Emigration nach Paris nach.
Erich Julius Kahn wurde am 23. Juli 1905 in Rimbach im Odenwald geboren - den Zweitnamen Itor legte sich der Komponist und Pianist erst um 1923 zu. Die Familie des Vaters war in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts aus Russland nach Bayern eingewandert, die Mutter stammte aus einer deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie, die in Heidingsfeld bei Würzburg ansässig war. Wenige Monate nach Erichs Geburt zog die Familie nach Königstein im Taunus um, wo der Vater als Kantor, Lehrer und Beschäftigungstherapeut arbeitete. Erich erhielt den ersten Klavierunterricht im Alter von sieben Jahren vom Vater. Er zeigte jedoch bald eine solch umfassende musikalische Begabung, dass er seinen Unterricht bei Paul Franzen in Frankfurt am Main fortsetzte. In dieser Zeit entstanden bereits erste Klavier- und Kammermusikkompositionen.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – die finanzielle Situation der Familie hatte sich erheblich verschlechtert – lebte Erich Kahn eine Zeitlang bei Verwandten der Mutter in Heidingsfeld. Von dort aus besuchte er die Schule und das Konservatorium in Würzburg. In diese Zeit fallen zwei Ereignisse, die den weiteren Lebensweg des Künstlers entscheidend prägten: Zum einen bekam Kahn durch das befreundete Geschwisterpaar Leo und Polja Oistrach Kontakt zur zionistischen Jugendgruppe „Blau-Weiß“ und beschäftigte sich erstmals bewusst mit seinem Judentum. Zum anderen lernte er eine frühe Komposition von Arnold Schönberg kennen, wodurch er als Pianist wie als Komponist wichtige neue Impulse erhielt. Bei seiner Rückkehr nach Königstein hatte Erich Kahn bereits beschlossen Musiker zu werden. Im Jahr 1920 begann er in Frankfurt am Main am Hoch’schen Konservatorium sein Studium (Klavier bei Paul Franzen und Komposition zunächst bei Waldemar von Bausznern, später bei Bernhard Sekles), das er 1927 mit dem pädagogischen und 1928 mit dem künstlerischen Examen abschloss. Kahn entfaltete schon während des Studiums – zum Teil gezwungenermaßen, da er seine Eltern ab 1923 mit ernähren musste – eine intensive Tätigkeit als Musiker und als Pädagoge. So wirkte er 1925 als Pianist beim Strawinsky-Festival mit und arbeitete bereits aushilfsweise als Pianist bei der 1923 gegründeten „Südwestdeutsche Rundfunkdienst AG.“, kurz „Radio Frankfurt“. Kahn betätigte sich auch als Leiter des Chors des Vereins für Jüdische Volksbildung. Seit etwa 1920 hatte er Kontakt zu Kreisen des Freien Jüdischen Lehrhauses, das aus diesem Verein hervorgegangen ist, gesucht und war so zu einer Gruppe jüngerer Juden um den Rabbiner Nehemia Anton Nobel gestoßen.
Ab 1928 schließlich war Kahn als Pianist und Assistent von Hans Rosbaud fest beim Rundfunk angestellt. Als Pianist wirkte er in dieser Zeit auch bei zahlreichen Konzerten der Frankfurter Ortsgruppe der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) und des „Frankfurter Musikstudios“ des Verbandes der konzertierenden Künstler Deutschlands mit, wobei er sich besonders für die Musik Arnold Schönbergs einsetzte. Auch Kahns Wirken als Komponist geriet in diesen Jahren zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Werken und der Lehre Schönbergs – ohne dass er jemals Schönbergs Schüler gewesen war: Es entstanden Werke wie die „Vier Lieder nach alten deutschen Mariengedichten“ (1931) und die „Drei Madrigale nach Volksliedern der Juden Osteuropas“ (1933). Für den Rundfunk fertigte Kahn einige Werkbearbeitungen an (z. B. gemeinsam mit Erich Schmid eine Orchesterfassung der „Six épigraphes antiques“ von Claude Debussy) und setzte sich musikalisch mit dem neuen Medium Radio auseinander (so etwa 1933 mit seiner „Kleinen Hörspielmusik ‚Der 24. Februar’“). Wichtige musikalische Anregungen erhielt Kahn auch durch sein Zusammentreffen mit einigen zeitgenössischen Komponisten, die auf Einladung Rosbauds ihre Werke im Rundfunk dirigierten bzw. in Einführungsvorträgen erläuterten, wie z. B. Arnold Schönberg, der im März 1931 einen Vortrag über seine Orchestervariationen op. 31 hielt, zu dem Kahn die erläuternden Werkausschnitte am Klavier spielte. Insgesamt betrachtet ist es dem Komponisten Kahn in den Jahren 1928 bis 1933 nur bedingt gelungen, die Kluft zwischen dem zeitaufwendigen und kräftezehrenden Broterwerb am Rundfunk und dem Wunsch nach selbstbestimmter Kompositionsarbeit zu überbrücken. Als Erich Itor Kahn am 1. April 1933 aus dem Rundfunk entlassen wurde, waren viele Werke noch in fragmentarischem Zustand; einige davon wurden später im Exil erneut aufgegriffen, andere blieben bis zu Kahns Lebensende unvollendet.
Seine Frau Frida Kahn, geb. Rabinowitsch (1905-2002), ebenfalls Pianistin, die mit ihrer Familie vor den Pogromen in Russland geflohen und 1921 nach Deutschland eingewandert war, hatte die warnenden Zeichen der Zeit 1933 sofort erkannt und drängte auf eine Flucht ins Ausland. Die Kahns verließen Frankfurt im Herbst 1933 und ließen sich in Paris nieder. Finanziell war die erste Zeit im Exil für das Paar nur durch Erich Itor Kahns Gehalt vom Rundfunk zu überbrücken, das er noch für einige Monate ausgezahlt bekam. Allmählich kam Kahn in dieser schwierigen Situation dann aber die am Frankfurter Rundfunk durch seine äußerst vielfältige Tätigkeit erworbene Flexibilität zugute, und er konnte als Pianist, Kammermusiker, Liedbegleiter, Arrangeur und Pädagoge langsam wieder Fuß fassen.
Sowohl als Pianist als auch als Komponist war Kahn nach seiner Exilierung noch einmal in Frankfurt zu hören, jedoch nur für das jüdische Publikum, da Kahn wie alle anderen jüdischen Musiker in Frankfurt nur noch im Jüdischen Kulturbund auftreten durfte: Am 14. Oktober 1934 kehrte Kahn ein letztes Mal nach Frankfurt zurück, um an einem Konzert anlässlich des 60. Geburtstags von Arnold Schönberg als Pianist teilzunehmen. Am 7. November 1935 wurde letztmalig eine Komposition Kahns in Frankfurt aufgeführt: Der Jüdische Kammerchor unter der Leitung von Nathan Ehrenreich brachte zwei der drei „Madrigale nach Volksliedern der Juden Osteuropas“ zu Gehör.
Literatur und Quellen::
Juan Allende-Blin, Erich Itor Kahn, München 1994 (Musik-Konzepte 85)
Becht, Lutz: Der jüdische Komponist Erich Itor Kahn, in: Brockhoff, Evelyn (Hg.): Musik in Frankfurt am Main, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 71, Frankfurt a. M. 2008, S. 99-110
Frida Kahn, Generation in Turmoil, New York 1960
Claudia Maurer Zenck, Erich Itor Kahn. Ein unbekannter Mittler der Neuen Musik, in: Musica 40, 1986, S. 525-631
Institut für Stadtgeschichte, S 2, Signatur 14.442, Erich Itor Kahn
Dokumentarfilm: Vergessene Musik – Erich Itor Kahn (ein Film von Karin Alles), Hessischer Rundfunk ESD 04.03.1993
Der künstlerische Werdegang des jüdischen Komponisten Ericht Itor Kahns ist eng mit der Modernisierung und Dynamisierung des gesellschaftlichen wie kulturellen Lebens Frankfurts der Zwanziger Jahre verbunden. Der erste Teil des Beitrags zeichnet das Leben Kahns bis seiner Emigration nach Paris nach.