Die Vertreibung und Vernichtung der Juden von Oberrad

Ende 1934 gab die NSDAP, als Privatdruck getarnt, mit „Eine Antwort auf die Greuel- und Boykotthetze der Juden im Ausland“ ein Namensverzeichnis nahezu aller in Frankfurt am Main lebenden Juden heraus, vorgeblich „um damit den Beweis zu erbringen, wieviel Angehörige dieser Rasse auch heute noch im nationalsozialistischen Deutschland bei bester Gesundheit ihren Geschäften nachgehen können“ - wie es im Vorwort heißt. Tatsächlich diente das in zwei Auflagen erschienene Verzeichnis als Adressbuch für gezielte Übergriffe und Segregation.

Die Diskriminierung hatte System. Neben dem alphabetischen Namensverzeichnis enthielt die Broschüre auch ein gegliedertes Gewerbeverzeichnis. Hier auf Seite 149 die Anschrift eines jüdischen Metzgers in Oberrad. Den Imperativ zur Lektüre des Vorworts findet man auf jeder Seite. Darin heißt es: „Wer vom Juden frisst, stirbt daran.“

In Oberrad lebten im Vergleich zu anderen Frankfurter Stadtteilen nur wenige jüdische Familien. Nach dem Terror des Novemberpogroms waren Ende 1939 nur noch vier von ursprünglich etwa 50 Juden in Oberrad gemeldet. Ob jemand von ihnen den Holocaust überlebt hat, ist nicht bekannt.

Entsprechend ihres Anteils an der Bevölkerung hatte Frankfurt in den dreißiger Jahren die größte jüdische Gemeinde im Deutschen Reich. Mit 5,4 Prozent besaß die Stadt eine höhere Rate an jüdischer Wohnbevölkerung als Berlin (3,8 Prozent), Breslau (3,2 Prozent) und Mannheim (2,3 Prozent). Während es in Frankfurt Stadtteile gab, die zu 20 Prozent von Juden bewohnt waren, beherbergte Oberrad mit 0,5 Prozent einen geringen Prozentsatz der Frankfurter Juden. Die genaue Zahl der in Oberrad lebenden Juden dürfte 1928, im Jahr der statistischen Erhebung, zwischen fünfzig und sechzig gelegen haben.

Die ersten Juden sind 1886 für Oberrad bezeugt: vier Familien mit insgesamt 14 Personen. Der Stadtteil besaß nie eine Synagoge. Relativ weit vom Stadtzentrum und den Einrichtungen der jüdischen Gemeinden gelegen, hatte Oberrad für die jüdische Bevölkerung Frankfurts keinen besonders hohen Wohnwert. Vor 1933 lebte in Oberrad u. a. die Familie eines jüdischen Anwalts, zwei oder drei Metzgereien, ein Einkaufsgeschäft und eine Gastwirtschaft wurden von Juden betrieben.

Die ersten Repressionen des NS-Staates, die auf die wirtschaftliche und physische Vernichtung der Juden abzielten, waren auch in Oberrad spürbar: Wie in ganz Frankfurt, postierten sich am 1. April 1933 geschlossene SA-Trupps vor Geschäften jüdischer Inhaber und riefen zum Boykott auf, skandierten und plakatierten die bekannten Aufforderungen „Deutsche, kauft nicht bei Juden!“
Bis 1938 drehte sich die Spirale der Entrechtung und der wirtschaftlichen Beschränkungen gegen die Juden immer weiter. Als schließlich am 7. November 1938 der Jude Herschel Grynspan den Legationsrat der deutschen Botschaft in Paris, Ernst vom Rath, durch zwei Schüsse schwer verletzte, und sich aus dieser Tat im Reich eine Pressekampagne bisher unbekannten Ausmaßes gegen die Juden entwickelte, brach nach der Nachricht vom Tode vom Raths am 9. November 1938 eine Welle des Terrors über die jüdische Bevölkerung herein. Die Chronologie der organisierten Gewalt der so genannten „Reichkristallnacht“ ist für Oberrad relativ genau nachzuvollziehen. Nachdem die in München versammelten Gauleiter ihre Gauämter telefonisch instruiert hatten, gegen jüdische Einrichtungen, Geschäfte und Synagogen loszuschlagen, kam es am Morgen des 10. November im Frankfurter Stadtgebiet zu judenfeindlichen Aktionen.

Mit einiger Verzögerung, etwa um 23 Uhr des gleichen Tages, begann der Pogrom auch in Oberrad. Er sollte die ganze Nacht andauern, ungeachtet der Tatsache, dass um Mitternacht vom 10. auf den 11. November durch den Rundfunk die „Aktion“ für beendet erklärt wurde. Unter der Führung des Ortsgruppenleiters Heldmaier verwüsteten 27 SA-Männer die Gastwirtschaft und das dazugehörige Büro eines Oberräder Juden, zerschlugen die Schaufensterscheiben von Geschäften, deren Inhaber Juden waren, und brachen zuletzt in die Wohnung eines jüdischen Anwalts ein, schikanierten dessen Familie und demolierten das Mobiliar. Nach einem am darauf folgenden Tage erschienenen Bericht des NS-Gaudienstes kam es im Verlauf der „spontanen Kundgebung“ zu keinen Plünderungen. Diese Nachricht ist recht zweifelhaft, denn in Oberrad nutzten der Ortsgruppenleiter der NSDAP, Heldmaier, und seine Schergen die Wehrlosigkeit der jüdischen Anwaltsfamilie aus: So brachen sie deren Kassenschrank auf und entwendeten etliche Wertsachen.

Direkt im Anschluss an die Gewalttaten wurden acht jüdische Bewohner des Stadtteils, unter ihnen auch die Eltern der Anwaltsfamilie, vom Ortsgruppenleiter auf das nahe Polizeirevier gebracht und dort in Schutzhaft genommen. In ganz Frankfurt wurden mehr als 2.600 Juden von der Gestapo nach vorgefertigten Listen verhaftet und nach zwei Tagen Schutzhaft in die Konzentrationslager Buchenwald und Dachau deportiert. Obwohl etliche Bewohner des Stadtteils Zeugen der Untaten waren, kam in Oberrad, wie an vielen anderen Orten im Reich, niemand den angegriffenen Juden zu Hilfe.

Ein Jahr nach dem Pogrom lebten in Oberrad insgesamt nur noch vier Juden, wie die Konfessionsstatistik für Frankfurt von 1939 belegt. Über den Verbleib der restlichen vierzig oder fünfzig Menschen kann man nur Vermutungen anstellen. Im günstigsten Fall sind die Juden vor oder gleich nach dem Pogrom emigriert. Doch auch wenn das deutsche Reich im Januar 1939 mit der Einrichtung der „Zentralstelle für die jüdische Auswanderung“ die Emigration der Verfolgten forcierte, ist festzuhalten, dass die in Oberrad nachzuweisenden Juden nicht gerade wohlhabend waren, was eine Auswanderung in andere Länder erschwerte. Plausibler erscheint die Erklärung, dass die Oberräder Juden nach den Erlebnissen der Pogromnacht zunächst in die Anonymität der Großstadt geflüchtet sind. Vielleicht hofften sie auf den Schutz durch die jüdische Gemeinde in der Innenstadt und auf die Möglichkeit, in einem Stadtviertel, in dem sie nicht bekannt waren, unbehelligt zu bleiben.

Einen Tag nach Pfingsten 1943 meldete Gauleiter Jakob Sprenger, dass Frankfurt „judenfrei“ sei. Doch richtig war diese Aussage nicht, denn noch lebten in der Stadt am Main etwa 500 Juden, die mit einem deutschen Staatsangehörigen verheiratet waren und so zunächst vom Transport in ein Konzentrationslager verschont blieben. Aus eben diesem Grund gab es auch in Oberrad noch Spuren jüdischen Lebens. So fragte der Oberräder Ortsgruppenleiter Koch am 8. September 1943 bei der Kreisleitung an, ob eine, in einer „Mischehe“ lebende Volljüdin „aus der Ortsgruppe entfernt werden soll.“ Der Sohn der Familie sollte auf jeden Fall aus der Gefolgschaft 6/81 der Oberräder HJ ausgeschlossen werden, und Koch erkundigte sich, ob man diesen nicht zusammen mit seiner Mutter „entfernen“ könne. Bis 1945 waren die „Mischehe-Juden“ vom Vernichtungsprozess ausgeschlossen, doch am 13. Januar 1945 bestimmte das Reichsicherheitshauptamt die Überstellung aller „in Mischehe lebenden arbeitsfähigen Juden ... zum geschlossenen Arbeitseinsatz nach Theresienstadt“. So verließ am 14. Februar 1945 der letzte Transport mit etwa 300 Juden Frankfurt in Richtung Theresienstadt. Ob die in Oberrad von Ortsgruppenleiter Koch gemeldeten Juden unter den Deportierten waren, war nicht mehr in Erfahrung zu bringen, doch ist es dem Umstand der bald erfolgten Befreiung des Konzentrationslagers zu verdanken, das fast alle Juden dieses Transports überlebten.

Wie viele der Oberräder Juden den Holocaust überlebten, war nicht mehr zu ermitteln. Sicher ist jedoch, dass mindestens zwei Mitglieder der während des Pogroms überfallenen Anwaltsfamilie im Vernichtungslager Chelmno (Kulmhof) bzw. im Ghetto von Minsk oder dem nahegelegenen Lager und Massenhinrichtungsplatz Maly Trostenez umgebracht wurden.

 

 

Literatur::

Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der französischen Revolution, Bd. 1-3, Darmstadt 1983

Adolf Diamant, Deportationsbuch der von Frankfurt am Main aus gewaltsam verschickten Juden in den Jahren 1941-44 (nach den Listen vom Bundesarchiv Koblenz), Frankfurt/Main 1984

Dokumente zur Geschichte der Frankfurter Juden 1933-1945, Herausgegeben von der Kommission zur Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden, Frankfurt/Main 1963

Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Bd. 1-3, Frankfurt/Main 21990

Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit - Darstellung, Dokumente und didaktische Hinweise, Bd. 1-4, Frankfurt/Main 1986

In Oberrad lebten im Vergleich zu anderen Frankfurter Stadtteilen nur wenige jüdische Familien. Nach dem Terror des Novemberpogroms waren Ende 1939 nur noch vier von ursprünglich etwa 50 Juden in Oberrad gemeldet. Ob jemand von ihnen den Holocaust überlebt hat, ist nicht bekannt.



Autor/in: Carl-Wilhelm Reibel
erstellt am 01.01.2009
 

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