Ostjüdische Einwanderung von der Reichsgründung 1871 bis zum Ende der Weimarer Republik 1933

Naftali Schimmel, geb. 1924, mit seiner Mutter Frieda und seiner Schwester Sara. Aufnahme aus d. J. 1937

Im Zuge der großen Auswanderungswellen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert nach Übersee verließen etwa drei Millionen osteuropäische Juden ihre Heimat. Die meisten schifften sich über die norddeutschen Häfen nach Amerika ein, ein kleiner Teil blieb aber im Deutschen Reich. In Frankfurt konzentrierten sich diese Einwanderer im Ostend, ihnen wurde zumeist von der christlichen mit offenen Ressentiments, von der alteingesessenen jüdischen Bevölkerung mit einer ambivalenten Mischung aus Glaubenssolidarität und sozialen Vorurteilen begegnet. 1938 wurde diese Gruppe vom NS-Staat des Landes verwiesen.

Die Entwicklung des jüdischen Lebens in der Zeit von 1871 bis zur Herrschaft der Nationalsozialisten ist in wichtigen Bereichen durch die Zuwanderung von Glaubensbrüdern aus Mittel- und Osteuropa mit geprägt worden. Rund drei Millionen jüdische Bewohner aus dem Bereich des heutigen Polen, der baltischen Staaten, Weißrusslands, Russlands und der Ukraine haben im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen, um großer Armut und drohenden Pogromen zu entgehen. Der größte Teil wanderte nach Nordamerika aus, etwa 70.000 von ihnen siedelten sich im Deutschen Reich an. Mehrere Tausend dieser Einwanderer suchten in Frankfurt ihr Auskommen als Industriearbeiter, Handwerker, Kleinhändler und Dienstboten. Die Behörden reagierten auf diese Wanderung mit restriktiven Maßnahmen. Der Transit zu den norddeutschen Häfen, von denen aus die Schiffe nach Amerika abfuhren, wurde streng überwacht. Den ins Reich Eingewanderten wurden zum Teil Massenausweisungen angedroht, die im Falle Frankfurts aber durch die Intervention einflußreicher Gemeindemitglieder verhindert werden konnten. Die städtische Politik war den Zuwanderern gegenüber ambivalent. Einbürgerungen kamen nur sehr begrenzt in Frage, man hatte kein Interesse an der Integration von Menschen, die stark durch ihre Herkunft aus dem „Schtetl“, das heißt durch religiöse Orthodoxie, sprachliche Besonderheiten (jiddisch) und allgemein durch vormoderne, ländliche oder kleinstädtische Lebensweisen geprägt waren. Andererseits waren die Einwanderer als Arbeitskräfte durchaus willkommen – sofern sie ihren Wohnsitz außerhalb der Stadt nahmen. Neben anderen Quellen zeigt dies ein Protokoll des Offenbacher Gewerbeamts von 1908:

„Erscheint der Auslaufer Elias Deutsch, 15 Jahre alt, geb. zu Strzyzow in Galizien und erklärt: Ich bitte um Ausstellung eines Arbeitsbuches. Auf Befragen erklärte er weiter: Seit ca. 2 Monaten bin ich in Deutschland. Ich reiste über Berlin nach Köln. Dort habe ich einen Bruder wohnen, bei dem ich mich drei Tage aufhielt. Ein Geschäft habe ich nicht gelernt. Von Köln aus fuhr ich nach Frankfurt a/Main. Dort bekam ich Arbeit bei der Firma Löwenstein & Co, Portefeuillesfabrik, Fischerfeldstrasse als Hausbursche, gegen Wochenlohn von 8 Mark. Ich hatte mir auch in Frankfurt Wohnung genommen. In vergangener Woche wurde ich nun auf das dortige Polizeirevier geladen. Dort wurde mir vorgelesen, dass das Polizeipräsidium Ausländern nicht erlaube, dort zu wohnen, und dass ich innerhalb 5 Tagen mir einen anderen Wohnort suchen müsste. Als ich darauf den Beamten frug, was ich nun machen sollte, sagte er zu mir: ,Du kannst nach Offenbach oder nach Mainz ziehen, arbeiten kannst Du hier.‘ Ich zog denn auch heute nach Offenbach. Morgens um 7 Uhr fahre ich mit der Lokalbahn nach Frankfurt zur Arbeit und abends 9 Uhr wieder zurück. Vorgelesen und genehmigt . . .“ (Stadtarchiv Offenbach, Akte Nr. 1094, als Faksimile abgedruckt in Heuberger/Krohn, Ghetto, S. 136).

Mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen veränderte sich die Situation. Zahlreiche Juden wurden nach der militärischen Inbesitznahme ehemals russischen Herrschaftsgebiets von dort als Arbeitskräfte angeworben oder zwangsverpflichtet, hinzu kam eine beträchtliche Anzahl jüdischer Kriegsgefangener. Viele dieser Menschen hatten nach dem Ende des Krieges kein Interesse, in ihre verarmte Heimat zurückzukehren, die für sie durch Nationalismus, gepaart mit Antisemitismus, gefährlich geworden war. Die Drohung einer generellen Ausweisung wurde durch einen Erlass des preußischen Innenministers Heine 1919 zurückgenommen: Bleiberecht sollten all diejenigen erhalten, die festen Wohnsitz und Arbeit nachweisen oder die als Arbeitslose von der jüdischen Gemeinde komplett versorgt werden konnten. Die Frankfurter Behörden bemühten sich darum, den Erlass rückgängig machen zu lassen oder wenigstens zu unterlaufen. In ihren Stellungnahmen übertreiben sie die Zahl der Betroffenen maßlos und argumentieren damit, dass Wohnungsmangel herrsche, in den jüdischen Wohnlagen (das heißt vor allem im Ostend) eine Übervölkerung mit katastrophalen hygienischen Folgen drohe, die Einwanderer meist kriminelle Elemente seien, dass sie den Deutschen die wenigen Arbeitsplätze wegnehmen würden. Zusammen mit einer antisemitischen Grundeinstellung vermischten sich diese Argumente zu einem Komplex, der damals als „Ostjudenfrage“ hohe politische Wellen schlug, obwohl 1926 nicht mehr als zwanzig Prozent Ausländer in der jüdischen Gemeinde gezählt wurden – der Wanderungsgewinn machte seit 1910 etwa 2.200 Personen aus.
Aber auch innerhalb der jüdischen Gemeinde führte die Zuwanderung zu Spannungen. Einerseits wurde vonseiten der Alteingesessenen große Solidarität (auch mittels Hilfsgeldern, die bei amerikanischen jüdischen Verbänden gesammelt wurden) in sozialer und karitativer Beziehung geübt. Andererseits empfanden viele von ihnen die Präsenz der Glaubensbrüder aus dem Osten als unwillkommenen Spiegel einer längst überwundenen kulturellen Unterlegenheit und Abgegrenztheit zur christlich-bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft. Frankfurter und zugereiste Juden pflegten ihre gegenseitige kulturell-religiöse Abgrenzung, wie die speziell von den Einwanderern eingerichteten Synagogen und Bethäuser im Ostend bezeugen. Die Atmosphäre dort schildert ein Artikel der Wilnaer Zeitung, der in „Der Israelit“ (52/1927, S. 4), in Übersetzung abgedruckt wurde:
„Hier ist man in eine andere Welt versetzt und man stößt auf Schritt und Tritt auf Spuren jüdischen Milieus im polnisch-galizischen Städtchen, das in die deutsche Großstadt verpflanzt wurde.
Die ältere Generation trägt und gibt sich nach alter heimischer Art. Die Männer gehen im Kaftan und mit Schläfchenlöckchen daher und fühlen sich vollends heimisch in ihren Synagogen und Bethäusern, von denen sich die bedeutendsten in der Langestraße und Obermainanlage befinden. Hier wird noch ,gedawent‘ nach altem chassidischem Ritus mit dem chassidischen Feuer, ein Beshamidrasch daneben vereinigt thorakundige Männer beim Talmud und bei anderen heiligen Sforim. Alle, soweit sie zur älteren Generation zählen, halten noch streng den Sabbat, was kein kleines Opfer in Deutschland mit seiner streng durchgeführten Sonntagsruhe ist. …“

Politische Integration durch Einbürgerung konnte sich bis 1933 nicht auswirken, da die Einbürgerung in der städtischen Praxis erst nach 10-20-jährigem Aufenthalt gewährt wurde. Nach 1933 waren die traditionell lebenden Einwanderer dem Antisemitismus in der nichtjüdischen Bevölkerung und den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen besonders ausgeliefert. 1938 wurden alle Juden mit polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Reich ausgewiesen und nach Polen abgeschoben. Im Zuge dieser Aktion wurden am 28. und 29. Oktober 1938 fast 2.000 Frankfurter Juden vom Hauptbahnhof aus an die polnische Grenze deportiert.

Von seiner Situation in Frankfurt berichtet Naftali Schimmel, geb. 1924, in einem Brief aus Israel vom 12. Mai 1999 (Jüdisches Museum Frankfurt): „Meine Eltern sind vor dem Ersten Weltkrieg von Galizien-Polen nach Deutschland gekommen und haben im Jahre 1913 in Frankfurt geheiratet. …Meine Kindheit begann in der Uhlandstr. 19. Dann sind wir in die Langestraße 49 gezogen … Wir sind dann in die Uhlandstraße 51 zurück gezogen. Bis zu unserer Ausweisung im Oktober 1938 wohnten wir in der Uhlandstraße 54. In unserer Gegend wohnten hauptsächlich Ostjuden. Ihre Wohnungen waren in den Uhland-, Ostend-, Schwanen-, Windeck-, Rückert-, Theobald-Straßen. Unser Kindergarten war am Baumweg und die Schule am Röderbergweg-Tiergarten. Im Frankfurter Ostend wohnten auch deutschstämmige Juden. …“

 

 

Ostjüdische kleine Synagogen und Betstuben im Ostend:

Beth Hamidrasch der Chewrath Schomre Schabbos e.V., Rechneigrabenstr. 12; der Verein wurde 1927 gegründet.

Bethaus des Vereins Kol Jaakov, Rechneigrabenstraße 12; Verein und Bethaus entstanden um die Jahrhundertwende und verfügten über rund 100 Mitglieder.

Betsaal des Vereins Linas Hazedek, Lange Straße 31, der Verein wurde 1910 gegründet.

Russisch-Polnischer Betsaal, Rechneigrabenstraße 5.

 

 

Literatur::

Rachel Heuberger/Helga Krohn, Hinaus aus dem Ghetto … Juden in Frankfurt am Main 1880–1950, Frankfurt am Main 1988

Ernst Karpf, „Und mache es denen hiernächst Ankommenden nicht so schwer …“. Kleine Geschichte der Zuwanderung nach Frankfurt am Main, Frankfurt 1993

Trude Maurer, Ostjuden und deutsche Juden im Kaiserreich und der Weimarer Republik. Ergebnisse der Forschung und weitere Fragen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 39, 1988, S. 523–542

Trude Maurer, Ostjuden in Deutschland 1918–1933, Hamburg 1986

Im Zuge der großen Auswanderungswellen um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert nach Übersee verließen etwa drei Millionen osteuropäische Juden ihre Heimat. Die meisten schifften sich über die norddeutschen Häfen nach Amerika ein, ein kleiner Teil blieb aber im Deutschen Reich. In Frankfurt konzentrierten sich diese Einwanderer im Ostend, ihnen wurde zumeist von der christlichen mit offenen Ressentiments, von der alteingesessenen jüdischen Bevölkerung mit einer ambivalenten Mischung aus Glaubenssolidarität und sozialen Vorurteilen begegnet. 1938 wurde diese Gruppe vom NS-Staat des Landes verwiesen.



Autor/in: Ernst Karpf
erstellt am 01.01.2003
 

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