Nathan Saretzki war Oberkantor der liberalen Hauptsynagoge in der Börnestraße und auch Kantor an der ebenfalls liberalen Westendsynagoge. Am 9. November 1938 rettet Saretzki wertvolle Notenbände aus der brennenden Hauptsynagoge und sicherte damit die Überlieferung wertvoller Kompositionen zum moderen bzw. liberalen synagogalen Ritus.
Als ältestes von neun Kindern des Kantors Elias Saretzki (?-1915) und seiner Frau Ernestine geb. Helischowski (1862-1927) wurde Nathan Saretzki am 11. März 1887 in Hohensalza/Posen geboren. Über seine Ausbildung ist nur wenig bekannt; es steht zu vermuten, dass er von seinem Vater als Kantor angelernt wurde. Wahrscheinlich absolvierte er anschließend ein pädagogisches Studium in Berlin. Seine erste Anstellung als Religionslehrer trat Nathan Saretzki in Westerburg im Westerwald an. Gleichzeitig nahm er in Frankfurt am Main Gesangsunterricht, da er Opernsänger werden wollte. Als Unteroffizier und Offiziersanwärter nahm Nathan Saretzki am Ersten Weltkrieg teil und erlitt in der Marneschlacht einen Kopfschuss, woraufhin er ein Jahr in einem Lazarett verbrachte und anschließend bis November 1918 in französische Kriegsgefangenschaft geriet. Die Nachwirkungen dieser Verwundung verminderten die körperliche Belastbarkeit Saretzkis; sie sind vermutlich der Grund dafür, warum er seinen Plan einer Bühnenlaufbahn aufgab und schließlich hauptberuflich Kantor wurde.
Nach dem Ersten Weltkrieg trat er in Gleiwitz (heute Gliwice, Polen) seine erste Stelle als Kantor an, wechselte aber bereits 1922 nach Frankfurt am Main, wo er Oberkantor der liberalen Hauptsynagoge Börnestraße wurde. Auch an der Frankfurter Westendsynagoge wirkte Saretzki regelmäßig als Oberkantor. Die Hauptsynagoge jedoch war seit ihrer Einweihung 1860 mit einer Orgel versehen und somit ausdrücklich für die liberale Liturgie vorgesehen, der Nathan Saretzkis Interesse und Engagement galt, und er fand in erster Linie dort – in den Worten seines Sohnes Edgar Sarton-Saretzki – seine „professionelle Heimat“. In der liberalen Liturgie oblag dem Kantor nicht nur die Rolle eines Vorbeters, sondern er trug auch die Gesamtverantwortung für die musikalische Ausgestaltung des Gottesdienstes. Den liberalen Ritus charakterisierte eine dem christlichen Ritus ähnliche Rollenverteilung zwischen Kantor, gemischtem Chor und Gemeinde.
Als Oberkantor der Hauptsynagoge brachte Nathan Saretzki gemeinsam mit dem Chorleiter Artur Holde ein breites Spektrum sowohl synagogaler als auch weltlicher Musik zu Gehör. Zugleich waren Saretzki wie auch Holde stark an zeitgenössischen Strömungen geistlicher Musik interessiert und setzten sich für diese ein. Nach der Erinnerung seines Sohnes Edgar Sarton-Saretzki kamen hin und wieder sogar „fast atonale Werke“ zur Aufführung, was nicht unbedingt auf die Zustimmung der Gemeinde stieß. Auch außerhalb der Gottesdienste wirkte Nathan Saretzki als Sänger: Er trat im Rahmen der musikalischen Ausgestaltung von Gedenkfeiern oder Vortragsveranstaltungen der Gemeinde als Tenor auf und wirkte z. B. gemeinsam mit dem von Artur Holde geleiteten Chor in einem öffentlichen Chorkonzert anlässlich des Frankfurter „Sommers der Musik“ 1927 mit.
Während nach der „Machtübernahme“ durch die Nationalsozialisten die Gemeinde stets stärker werdenden (u. a. ökonomischen) Repressalien ausgesetzt war, konnten die Gottesdienste bis zur Zerstörung der Hauptsynagoge während des Novemberpogroms 1938 weitgehend ungestört fortgesetzt werden. Darüber hinaus trat Nathan Sareztki auch nach 1933 noch vereinzelt als Tenor außerhalb der Synagoge auf. Nachweisbar sind Beteiligungen Saretzkis in geistlichen Konzerten der Jüdischen Tonkünstler Frankfurts und der Gesellschaft für Jüdische Volksbildung. Nach der Gründung des Reichsverbands der Jüdischen Kulturbünde 1935 gingen beide Vereine in dieser Organisation auf. Hingegen ist eine Beteiligung Nathan Saretzkis an der Gründung des Jüdischen Kulturbunds Rhein-Main in Frankfurt nicht belegt. Nathan Saretzki wirkte in Frankfurt am Main auch als Religionslehrer, von 1930 bis 1935 am Lessing-Gymnasium, bis 1935 an der Schillerschule und ab 1937 am Philanthropin, der 1804 gegründeten Schule der Frankfurter liberalen Juden; an der Hassanschule erteilte er zeitweilig Deutschunterricht.
Im Novemberpogrom drohte Nathan Saretzkis Notensammlung – Grundlage des von ihm für die musikalische Ausgestaltung des liberalen Ritus verwendeten Repertoires und darüber hinaus mit zahlreichen handschriftlichen Notizen über seine Auslegung der liberalen Gottesdienstordnung versehen – in der von den Nationalsozialisten in Brand gesteckten Frankfurter Hauptsynagoge zu verbrennen. Saretzki rettete jedoch die 16 Notenbände aus den Flammen und sicherte so die Überlieferung nicht nur von Werken Louis Lewandowskis, Salomon Sulzers, Jacob Bachmanns, Aron Friedmanns, Moritz Deutschs und Arnold Grünzweigs. Unter den Notenbänden befand sich auch eines der wohl letzten in Deutschland für den liberalen jüdischen Ritus entstandenen Werke, die noch im Januar 1933 im Druck erschienene Komposition „Eine Freitagabend-Liturgie für Kantor, Chor und Orgel“ von Heinrich Schalit. Nathan Saretzkis Interesse für außereuropäische traditionelle jüdische Melodien ist durch einen in der Sammlung enthaltenen Band des monumentalen zehnbändigen „Hebräisch-orientalischen Melodienschatzes“ des Musikwissenschaftlers und Ethnologen Abraham Zvi Idelsohn belegt.
Wenige Tage später, am 13. November 1938, wurde Nathan Saretzki verhaftet und für einige Stunden in der Polizeiwache im Frankfurter Oberweg festgehalten. Warum die Freilassung so rasch erfolgte, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Saretzkis Sohn vermutet, unter den verantwortlichen Beamten sei ein ehemaliger Kamerad im Ersten Weltkrieg gewesen.
Nachdem die Haupsynagoge zerstört war, fanden die Gottesdienste der liberalen Gemeinde in der Aula des Philanthropins statt. Sie wurden von Saretzki als Rabbinatsverweser geleitet. Konzerte in der Aula mussten als „religiös-musikalische Weihestunden“ angekündigt werden. In einer der letzten dieser Weihestunden am 8. Juni 1941 kamen Werke u. a. von Siegfried Würzburger, dem Organisten der Frankfurter Westendsynagoge, Eduard Birnbaum, Samuel Naumbourg und Herbert Fromm zur Aufführung. Im Juli 1941 wurde das Programm noch einmal wiederholt, weil der Saal bei der ersten Veranstaltung nicht alle Interessenten fassen konnte. Nur kurze Zeit darauf begann die Deportation der Frankfurter Juden in die nationalsozialistischen Vernichtungslager. Am 18. August 1942 wurde Nathan Saretzki gemeinsam mit seiner Frau Emmy Saretzki, geb. Ullmann (geb. 1890), und seiner Schwiegermutter Rosa Ullmann, geb. Schaumburger (geb. 1859), ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Nathan und Emmy Saretzki wurden am 9. Oktober 1944 nach Auschwitz-Birkenau gebracht und dort am 12. Oktober 1944 ermordet. Rosa Ullmann starb am 16. September 1943 im Ghetto Theresienstadt. Der Sohn von Nathan und Emmy Saretzki, Edgar, emigrierte 1939 nach England; er wurde dort 1940 interniert und nach Kanada verbracht, wo er nach seiner Freilassung 1943 blieb.
In einem Gedenkkonzert am 13. Juni 2004 in der Aula des Philanthropins konnte die letzte „Musikalischen Weihestunde“ der Frankfurter liberalen Jüdischen Gemeinde rekonstruiert und noch einmal zu Gehör gebracht werden (Lustiger 2004). Seit September 2005 erinnern „Stolpersteine“ vor dem Haus Lersnerstraße 34 in Frankfurt am Main, der letzten Adresse der Familie, an Nathan Saretzki, seine Ehefrau und seine Schwiegermutter. Bei dem Haus handelt es sich vermutlich um ein so genanntes „Judenhaus“; die Familie Saretzki lebte seit Mai 1937 dort.
Seine Notensammlung übergab Nathan Saretzki kurz vor der Deportation an eine befreundete katholische Familie mit der Bitte, die Bände sicher aufzubewahren. Durch einen Zufall wurden die Mitglieder dieser Familie Ende der 1990er Jahre auf den Sohn Nathan Saretzkis aufmerksam und händigten ihm die Noten seines Vaters aus. Im Jahr 2000 errichtete Edgar Sarton-Saretzki damit die „Stiftung Oberkantor Nathan Saretzki“ zu Gunsten des Europäischen Zentrums für Jüdische Musik in Hannover. Dort firmiert sie heute unter dem Titel „Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki“. Da viele Werke der liberalen Liturgie durch die Verfolgung und mutwillige Zerstörung durch die Nationalsozialisten unwiederbringlich verloren sind, ist die Sammlung heute für die Erforschung der musikalischen Ausgestaltung der liberalen jüdischen Liturgie vor ihrer gewaltsamen Unterdrückung überaus bedeutsam.
Arno Lustiger, (Hg.), „Liebe macht das Lied unsterblich“. Rekonstruktion der letzten „Musikalischen Weihestunde“ in der liberalen Synagoge Philanthropin, Juni 1941, Frankfurt am Main 2004.
Joachim Martini/Judith Freise, Jüdische Musikerinnen und Musiker in Frankfurt 1933-1942. Musik als Form geistigen Widerstandes, Frankfurt am Main 1990.
Edgar Sarton-Saretzki, Auf Sie haben wir gewartet, Hanau 1997.
Heidy Zimmermann,: Schir Zion. Musik und Gesang in der Synagoge, in: Jüdische Musik? Fremdbilder – Eigenbilder, hg. von John, Heidy Zimmermann ( Reihe Jüdische Moderne, Bd. 1), Köln 2004, S. 53-75.
Europäisches Zentrum für Jüdische Musik, Hannover: Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki (Notensammlung Nathan Saretzkis mit seinen handschriftlichen Aufzeichnungen). (o. Sign.)
Historisches Museum Frankfurt am Main, „Bibliothek der Alten“: Von Edgar Sarton-Saretzki ausgestatteter Kasten mit zahlreichen autobiographischen Erinnerungen und Dokumenten auch zu Nathan Saretzki (u. a. eine Liste der aus der brennenden Hauptsynagoge geborgenen Noten und handschriftlichen Notizen und einen Mitschnitt der rekonstruierten letzten Weihestunde im Philanthropin). (o. Sign.)
Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main: S2, Sign. 17.164: Saretzki, Nathan.
Martha Stellmacher unter Mitarbeit von Barbara Burghardt, „Orgel ad libitum“. Einblicke in die Musik der Reformsynagogen am Beispiel der „Sammlung Oberkantor Nathan Saretzki“, Hannover 2015.
Nathan Saretzki war Oberkantor der liberalen Hauptsynagoge in der Börnestraße und auch Kantor an der ebenfalls liberalen Westendsynagoge. Am 9. November 1938 rettet Saretzki wertvolle Notenbände aus der brennenden Hauptsynagoge und sicherte damit die Überlieferung wertvoller Kompositionen zum moderen bzw. liberalen synagogalen Ritus.