Ein Brief an einen Freund schildert die Erlebnisse anlässlich einer Boykottaktion der NS Handels- und Gewerbeorganisation (Hago) gegen „jüdische Geschäfte“ in der Innenstadt.
Aus dem Brief Tilly Cahns an einen Bekannten in Freiburg im Breisgau vom 3. Januar 1935:
„Schon am Samstag vor Weihnachten (22. Dezember 1934) setzte die rühmliche Aktion ein, von der NS-Hago ausgeheckt, und erstreckte sich über den Sonntag, um am Heiligabend sinnigerweise ihren Höhepunkt zu erreichen.
Es handelte sich namentlich um Schwarzschild-Ochs, alle Speier-Filialen [bekanntes Schuhhaus], Schuhhaus Joseph, Ehrenfeld, Bamberger, Carsch, Saalberg (beliebter, von mir perhorreszierter Galanterie-Geschenk-Bazar mit Einheitspreisen an der Hauptwache), Kaufhof alias Tietz (in dem noch jüdisches Kapital steckt). Bei Geflügel-Mayer versuchten sie es am Samstag. Worauf dessen neun Metzgerburschen mit ihren Wildbret-Messern und aufgekrempelten Ärmeln an der belagerten Eingangstür erschienen und die Helden erfolgreich verscheuchten. Diese standen Schulter an Schulter, ließen niemand durch mit dem Hinweis, dass es schimpflich sei, in solchem Geschäft zu kaufen.
Mit Ausländern gab es köstliche Carambolagen - diese drohten nämlich mit ihren Consulaten. Eine Bekannte von mir wurde gefragt: Sind Sie Jüdin? Worauf sie brüllte: Das geht Sie gar nichts an! und deutlich merkte, wie sie kuschten, die feigen Hunde. Mein Mann drängte sich mit Gewalt bei Ehrenfeld durch (im Regenmantel, sehr schäbig aussehend). Man rief ihn an: Sind Sie deutscher Arbeiter? Jawohl, gerade deshalb will ich ja hier herein. Im Laden beinah ganz leer (am 24. um 4 Uhr kaufte er ein Radlaternen-Lämpchen), aber einige von diesen Helden (alle in Zivil, junge SA-Menschen, wohl auch Studenten) schlichen im Laden herum. Mein Mann, absichtlich laut, erstaunt: Nanu, was ist denn eigentlich los, Sie sind ja belagert??? Darauf der arische Verkäufer, ebenso laut: Ja, das ist der Konkurrenzneid, die NS-Hago hat nämlich zu Weihnachten ihr deutsches Herz entdeckt, wir deutschen Angestellten zählen natürlich nicht mit.
Vor all den Läden große Menschenmengen, der Janhagel mag sein Gaudi dabei gefunden haben, ich habe von allen und verschiedensten Leuten aus dem Volk gehört, es sei eine unerhörte Schande und Blamage. Schutzleute gingen auf und ab, nichts unternehmend, als das staunende Publikum zum Weitergehen aufzufordern.
Mein Mann erlebte bei Tietz folgendes: Ein nett aussehender, anscheinend auswärtiger, bayrischer Hitlerjunge sprach einen der Schupos an: Aber das geht doch nicht, das soll doch nicht sein, warum greifen Sie denn nicht ein? Der Schupo, rot vor Scham, bitter: „Ach, das ist doch bestellte Arbeit! - Der Junge: Aber telefonieren Sie doch an Ihre Behörde!? - „Ach, das haben wir doch längst getan, wir sollen gar nichts tun. (Und ein Schutzmann will doch gerade wissen, ob Schwarz oder Weiß!!). - Der Junge war ganz empört. Mein Mann meinte, letzten Endes bedeute das: Handelsministerium gegen Innenministerium. Aus privater Quelle (befreundeter Syndicus der Handelskammer) weiß ich, daß gestem die Inhaber der boykottierten Geschäfte (die alle förmliche Beschwerde einlegten, z. T., als Geste, ihren Angestellten kündigten) zum Polizeipräsidenten bestellt wurden. Man entschuldigte sich, versprach, es werde nicht wieder vorkommen, aber die Kompetenzen seien nicht klar gewesen!
In einer englischen Zeitung stand ein ganz kurzes Momentbild: Eine Engländerin wollte in ein solches Geschäft hinein, man ließ sie nicht durch; als sie sich mit Gewalt durchdrängte, wurde sie von einem der Ehrengarde bespuckt, da man sie für eine Deutsche hielt!
Ich kann es mir niemals verzeihen, daß ich, wirklich ganz gegen meine Natur, keinen Durchbruch gemacht habe. Ich wußte von nichts, bis ich am 24. mittags um 1 Uhr von Schepeler [Roßmarkt] aus die Vorgänge am Herz-Schuhhaus (Roßmarkt 8) erblickte – von den Parallel-Vorgängen ahnte ich nichts, da ich sehr in Eile (arme Hausfrau vor so vielen Feiertagen mit elf hungrigen Mäulern!) nicht weiter ins Zentrum strebte. Es gab mir einen solchen Schock, daß meine Nerven einfach zu schwach waren und mein armes goyisches Gehirn nicht auf den Gedanken verfiel (wie viele jüdische Bekannte), daß man in einem eleganten Schuhhaus auch Schnürsenkel kaufen kann. Niemals wieder möchte ich mit solch negativen Gefühlen unseren Weihnachtsbaum schmücken. (Am 1. April habe ich gehörige Durchbrüche gemacht, auf die Gefahr hin, fotografiert zu werden. Diesmal haben Ausländer und Juden fotografiert.) Kleine Tatsache als Nachtrag: Zu einem jungen, sehr arischen Mädchen sagte ein Schupo, als man sie nicht zu Speier hineinließ, etwas leise: Wissen Sie, Fräulein, legen Sie einen Gutschein auf den (Gaben)Tisch und kaufen Sie die Schuhe nach den Feiertagen.“
Aus: Cahn, Peter, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe von Max L. Cahn und Tilly Cahn aus den Jahren 1933-1943, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 65, 1999, S.182-219)
Ein Brief an einen Freund schildert die Erlebnisse anlässlich einer Boykottaktion der NS Handels- und Gewerbeorganisation (Hago) gegen „jüdische Geschäfte“ in der Innenstadt.