Die Betreuung der Auschwitz-Überlebenden

Die Zeugenbetreuerin Emmi Bonhoeffer mit zwei ehemaligen Auschwitz-Häftlingen, die als Zeugen im Auschwitz-Prozess aussagten,1964.

Die Zeugenbetreuerin Ulla Wirth begleitet den Zeugen Jozef Kral am Tag seiner Aussage zum Gerichtssaal, 1964.

Erstmals stand beim Frankfurter Auschwitz-Prozess ein Kreis engagierter Einzelpersonen den Überlebenden, die vor dem Gericht gegen ihre ehemaligen Peiniger aussagen sollten, menschlich zur Seite. Eine solche Zeugenbetreuung wurde später in weiteren Prozessen zu NS-Verbrechen eingerichtet.

 

Viele der Zeugen waren der deutschen Sprache nicht mächtig und kamen unter schweren psychischen Belastungen, ganz auf sich alleine gestellt und ohne Geld in eine ihnen fremde Stadt. Nachdem bereits mehr als 30 Überlebende von Auschwitz vernommen worden waren, wies Hermann Langbein Journalisten auf diese unverantwortliche Situation hin. Einer sprach das Problem in einem Artikel an.

 

Beim Zahnarzt las Ulla Wirth zufällig diesen Zeitungsbericht und beschloss spontan, aus einem menschlichen Impuls heraus, etwas zu tun. Zu Hause angekommen rief sie im Landgericht in Frankfurt an, konnte Fritz Bauer sprechen, der ihr die Situation der Zeugen bestätigte. Das Gericht könne nichts machen, aber „wenn Sie etwas tun könnten, dann wäre das natürlich sehr verdienstvoll, und wir wären Ihnen sehr dankbar“. Frau Wirth besprach sich mit ihrer Freundin Emmi Bonhoeffer, deren Mann und Schwager von den Nazis ermordet worden waren. Gemeinsam mit zwei weiteren Freundinnen beschlossen sie mit Unterstützung des Roten Kreuzes, Zeugen fortan ihre Betreuung anzubieten: Sie holten sie am Flughafen oder am Bahnhof ab, brachten sie ins Hotel, holten sie dann dort ab und fuhren sie ins Gericht. Später schloss sich der Gruppe noch ein junger Student als Betreuer an. Ihre wichtigste Aufgabe bestand darin, menschlich, warmherzig und einfühlsam den Zeugen gegenüber zu treten, sich auf sie und ihre Verfolgungsgeschichte einzulassen, ihnen vor und nach ihrer Aussage vor Gericht beizustehen, einfach dazusein, vielleicht auch ein Beruhigungsmittel zur Hand zu haben, sie in den Arm zu nehmen oder einfach einmal über den Arm zu streichen. 170 Zeugen betreuten sie im ersten Jahr ihrer Tätigkeit. Oft entwickelte sich durch diese Zeugenbetreuung jahrelange Freundschaften.

 

Oft war es zuerst schwierig, das Vertrauen der Auschwitz-Überlebenden zu gewinnen, die bisher Deutsche ausschließlich als SS-Männer in Auschwitz kennen gelernt hatten. Ulla Wirth berichtete von einer Zeugin, die am Flughafen ausgerufen wurde, weil die Betreuer nicht wussten, ob die Einladung noch pünktlich angekommen war. Sie hat sich nicht gemeldet, obwohl sie den Ausruf gehört hatte. „Als wir uns näher kannten, fragte ich sie: ,Warum haben Sie sich eigentlich nicht gemeldet?‘ Da sagte sie: ,Wissen Sie, ich habe Angst gehabt. Meine Verwandten haben gesagt, fahr da nicht hin! Wer weiß, ob das nicht alles gelogen ist, daß du dort betreut wirst. Es kann ja sein, daß da SS-Leute sind und dich einfach mitnehmen.‘“

 

Dem Zahnarzt Rosenstock war bei seiner Aussage von dem Verteidiger Laternser dermaßen zugesetzt worden, dass er die ganze Nacht in seinem Hotelzimmer geweint hatte, das Hotelpersonal rief am nächsten Morgen verzweifelt bei Ulla Wirth an und bat um Unterstützung. Einem befreundeten Arzt gelang es dann, Rosenstock zu beruhigen.

 

Auch in anderen Situationen konnten die Betreuer den Zeugen Kraft geben. Die Auschwitz-Überlebende Anna Palarcyzk erinnert sich: „Neben anderen Angeklagten war der [SS-Mann] Perry Broad auf freiem Fuß. Nach meiner Aussage wollte ich in die Toilette gehen. Ich gehe und der Korridor war ganz leer, ich bin gegangen, ich gehe raus und [da] steht Perry Broad. Er hat gemerkt, wie erschrocken ich war, darüber lachte er. Ich war versteinert. Allein mit dem SS-Mann in einem ganz leeren Korridor, er konnte mit mir machen, was er wollte. Das war Unsinn natürlich … aber ich konnte das nicht beherrschen.“ Ihre Sicherheit fand sie vielleicht auch deshalb wieder, weil Ulla Wirth auf sie wartete: „So haben sich sehr persönliche Beziehungen entwickelt, da wir ja auch den ganzen Tag im Gericht saßen und die Zeugenaussagen miterlebt haben, ihnen in den Pausen richtig beistehen konnten, weil sie sich furchtbar aufgeregt hatten.“ Immer wieder hatte sie in den Jahren nach der Befreiung von solchen Situationen des Ausgeliefertseins geträumt, auch in der Nacht nach ihrer Aussage. „Ich habe geträumt, daß ich in dem leeren Saal bin und die SS-Männer sitzen auf der Anklagebank. Dann kommen sie zu mir und wollen mich ersticken.“

 

Die Initiative der Frankfurter Frauen zur Betreuung der Zeugen hatte auch auf andere Prozesse zu NS-Verbrechen Einfluss. Sie stellten ihre Erfahrungen in einem Leitfaden zusammen, in dem sie zahlreiche konkrete Tipps für den Umgang mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen – vor allem aus dem Ostblock – vermittelten, um solchen Menschen ihre Reise zu Gerichten in Deutschland zu erleichtern.

 

 

Gekürzter Text aus: Monica Kingreen, Der Auschwitz-Prozess 1963–1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung, (Pädagogische Materialien Nr. 8, Fritz Bauer Institut), Frankfurt am Main, 2004, S.82-83

Erstmals stand beim Frankfurter Auschwitz-Prozess ein Kreis engagierter Einzelpersonen den Überlebenden, die vor dem Gericht gegen ihre ehemaligen Peiniger aussagen sollten, menschlich zur Seite. Eine solche Zeugenbetreuung wurde später in weiteren Prozessen zu NS-Verbrechen eingerichtet.



Autor/in: Monica Kingreen
erstellt am 01.01.2006
 

Verwandte Personen

Bonhoeffer, Emmi


Wirth, Ulla

Verwandte Ereignisse

Erster Frankfurter Auschwitz-Prozess

Verwandte Begriffe

Auschwitz-Prozess

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