Das Haus Gaußstraße 14 zwischen 1933 und 1943. Vom gutbürgerlichen Wohnhaus zum „Ghettohaus“ – eine Chronologie

Gaußstraße 14 im Jahr 2008

Erich Mannheimer und Lotte Spier im September 1940

Helene Neuhaus in Amsterdam 1942

Justin Jakob Neuhaus

Peter David Neuhaus in Amsterdam 1942

Das Beispiel eines gutbürgerlichen Wohnhauses im Frankfurter Nordend zeigt, wie sich zwischen 1933 und 1943 das Leben seiner jüdischen Bewohner dramatisch veränderte.

 

1933
Zu den langjährigsten Mietern der Gaußstraße 14 gehören die jüdischen Familien Mannheimer und Neuhaus. Bereits 1912/13 sind sie in die großzügigen, luxuriös ausgestatteten 6-Zimmer-Wohnungen des damals neuen Hauses eingezogen. Sie sind Geschäftsleute und zählen wie die übrigen jüdischen und nicht-jüdischen Mieter zum gut situierten Mittelstand. Seit 1920 gehört das Haus dem in Amsterdam lebenden Schwager von Erna Mannheimer, seitdem sind die Mannheimers die Hausverwalter. Kurz nach der Machtübernahme der Nazis im Römer stirbt der 56jährige Leopold Mannheimer im März an einem Herzleiden.

1934/35
Die Brüder Justin und Siegbert Neuhaus sind mit ihrer Geschäftsadresse Zeil 46 in der ersten und zweiten Auflage der diskriminierenden NSDAP-Boykottliste verzeichnet. Da viele nicht-jüdische Hauseigentümer nicht mehr an Juden vermieten, ergibt sich eine gewisse Konzentration jüdischer Mieter auf Häuser mit jüdischen Eigentümern. Als am 15. September 1935 die Nürnberger Rassegesetze in Kraft treten, gibt es im Haus nur noch eine Mietpartei, ein nicht-jüdisches Ehepaar, die noch als „Reichsbürger“ mit allen damit verbundenen Rechten gelten.

1936
Die im Haus geborene 23-jährige Gerda Mannheimer hat aufgrund der Zulassungsbeschränkungen für Juden an deutschen Universitäten keine Aussichten auf ein Medizinstudium. Nach ihrer Heirat im Mai geht sie zusammen mit ihrem jüdischen Mann nach Amsterdam, wo ihre Verwandten leben. Wegen stark rückläufiger Geschäftseinkünfte infolge des Boykotts planen auch die Brüder Neuhaus die Auswanderung. Sie geben ihre Wohnung im dritten Stock auf und ziehen in Untermiete, Justin Neuhaus zu Erna Mannheimer und ihrem 16-jährigen Sohn Erich in den ersten Stock.

Im dritten Stock zieht eine jüdische Familie aus Schlüchtern ein. Sie gehört zu den zahlreichen jüdischen Flüchtlingen aus den Landgemeinden, die in Frankfurt den Schutz der Anonymität, aber auch die Unterstützung der größeren Jüdischen Gemeinde sowie bessere Existenz- und Auswanderungsmöglichkeiten suchen.

1937
Im Sommer heiratet Justin Neuhaus Helene, geb. Seligmann. Nach der Hochzeitsreise in die Schweiz zieht sie zu ihm in die Gaußstraße 14.

1938
Im Juni wird Justin und Helenes Sohn Peter David geboren. Der Bruder Siegbert versucht auf einer USA-Reise vergeblich, Affidavits für die USA oder ein anderes Überseeland zu bekommen. Als er bei Offenbach von einem Arbeiter, den er entlassen musste, tätlich angegriffen wird und eine Vorladung von der Gestapo erhält, flüchtet er sofort über die holländische Grenze.

Aufgrund einer Denunziation werden der aus Polen stammende Mieter der Wohnung im zweiten Stock und sein Sohn wegen „Hören feindlicher Radiosender“ verhaftet und zu einer Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafe verurteilt. Am 28. Oktober wird auch seine Frau bei der „Polenaktion“, der Ausweisung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit, verhaftet und über die polnische Grenze abgeschoben.

Beim Novemberpogrom zerstört der Nazi-Pöbel auch Geschäft und Lager der Brüder Neuhaus auf der Zeil und wirft die Büromöbel und Waren auf die Straße. Im Haus Gaußstraße 14 wird der Mieter der Parterrewohnung verhaftet und ins KZ Buchenwald verschleppt. Erst nach einem Monat schlimmster Haftbedingungen kommt er wieder frei.

Im Dezember zieht in die Wohnung im zweiten Stock eine Familie aus Großen-Buseck ein, die vor dem Novemberpogrom nach Frankfurt geflüchtet ist. Nazis haben ihr Geschäft und die Wohnung zerstört und einen Angehörigen geschlagen und ins KZ Buchenwald verschleppt, wo er an den Schlägen gestorben ist.

1939
Im Frühjahr folgt Justin Neuhaus mit Frau und Kind seinem Bruder nach Amsterdam. Auch alle anderen Hausbewohner suchen verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Land zu verlassen, die meisten ohne Erfolg. Im Sommer gelangt der 11-jährige Sohn der Schlüchterner Familie mit einem „Kindertransport“ nach England.

Nach der Volkszählung haben am Stichtag 17. Mai fast alle Familien im Haus Untermieter, um nach der erzwungenen Schließung ihrer Geschäfte und der Beschlagnahmung ihres Vermögens ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Ein kleines Zubrot ermöglicht dem Mieter der Parterre-Wohnung der Kartenvorverkauf für das Kino des Jüdischen Kulturbunds im Philanthropin, das Juden nach der völligen Ausgrenzung aus dem öffentlichen und kulturellen Leben noch besuchen dürfen. So ist das Haus seit Mai eine wichtige Adresse für jüdische Kinobesucher.

Erna Mannheimer darf die Mieten, wie auch andere Barzahlungen nicht mehr entgegen nehmen. Für das Haus wird ein Zwangsverwalter eingesetzt.

Seit Kriegsbeginn gelten für die jüdischen Hausbewohner weitere gravierende Einschränkungen: So dürfen sie zwischen 20 Uhr und 6 Uhr morgens das Haus nicht verlassen und nur in für Juden bestimmten Lebensmittelverkaufsstellen einkaufen.

1940
Im Februar kann noch eine Hausbewohnerin zu ihrer Tochter in die USA ausreisen.
Der 20-jährige Erich Mannheimer muss wie alle anderen arbeitsfähigen jüdischen Hausbewohner Zwangsarbeit leisten. Trotz aller gebotenen Vorsicht pflegt er noch vereinzelte freundschaftliche Kontakte zu Nicht-Juden, wie zu einem Mädchen aus der Nachbarschaft oder über eine Tanzschule, die er unter dem Pseudonym „Erich Mann“ heimlich besucht.

Hausdurchsuchungen und Vorladungen durch die Gestapo gehören inzwischen zum Alltag. Im September wird ein Hausbewohner aufgrund einer Denunziation unter der Anschuldigung „Vorbereitung zum Hochverrat und gemeinschaftliches Abhören feindlicher Sender“ verhaftet und am 10. Januar 1941 wegen „Rundfunkverbrechen“ vom Oberlandesgericht Kassel zu zwei Jahren Zuchthaus und drei Jahren Ehrverlust verurteilt.

1941
Im Sommer beginnt mit der behördlichen Einweisung jüdischer Untermieter eine Phase weiterer persönlicher Beschränkung in der Zwangsgemeinschaft eines „Ghettohauses“. Es herrscht drangvolle Enge, da alle Zimmer belegt sind. Das Ziel, die „Volljuden“ auch im Rahmen von Hausgemeinschaften völlig von den „Ariern“ abzusondern, erreichen die Nazibehörden in der Gaußstraße 14 nicht ganz. Das nicht-jüdische Ehepaar gehört auch weiterhin zu den Mietern. Dadurch bleibt das Haus auch für nicht-jüdische Besucher zugänglich. Ab September müssen alle jüdischen Hausbewohner den „Judenstern“ tragen, sobald sie das Haus verlassen.

Bei der ersten Frankfurter Deportation am 19. Oktober wird ein Hausbewohner in das Ghetto Lodz verschleppt.

1942
Bei den Deportationen im Mai und Juni sind sieben Personen aus dem Haus betroffen, darunter auch Erna und Erich Mannheimer. Niemand von ihnen überlebt. Bei den Deportationen am 1. und 15. September werden 14 überwiegend ältere Bewohner ins KZ Theresienstadt verschleppt. Alle kommen dort bzw. in Auschwitz ums Leben. Drei Hausbewohner haben sich zuvor das Leben genommen. Sechs Hausbewohner werden am 24. September deportiert. Alle werden in Estland ermordet.

Im Oktober muss das letzte jüdische Ehepaar im Haus in die Zwangsunterkunft im Hermesweg ziehen. Es bleibt neben dem nicht-jüdischen Ehepaar noch die Ehefrau des inhaftierten Mieters der Parterrewohnung als „Glaubensjüdin“ sowie eine Verwandte mit ihrem jüdischen Ehemann.

1943
Ab Januar werden in „Mischehe“ lebende jüdische Männer mit ihren Frauen eingewiesen. Einer dieser Männer wird im April von der Gestapo verhaftet. Nach der Haftverbüßung im Strafgefängnis Preungesheim inhaftiert ihn die Gestapo zunächst im Polizeigefängnis und deportiert ihn von dort nach Auschwitz, wo er im Oktober ermordet wird. Auch der Mieter der Parterrewohnung wird nach der Haftentlassung nach Auschwitz deportiert und ermordet. Im Dezember müssen die „Mischehepaare“ in ein Quartier ins Ostend ziehen. Das Haus wird für „judenrein“ erklärt.

 

Literatur: Hebauf, Renate, Gaußstraße 14 - ein "Ghettohaus" in Frankfurt am Main : die Geschichte eines Hauses und seiner jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner zwischen 1912 und 1945, Hanau 2010

Das Beispiel eines gutbürgerlichen Wohnhauses im Frankfurter Nordend zeigt, wie sich zwischen 1933 und 1943 das Leben seiner jüdischen Bewohner dramatisch veränderte.



Autor/in: Renate Hebauf
erstellt am 01.01.2008
 

Verwandte Ereignisse

Ausweisung der Juden polnischer Staatsangehörigkeit


Novemberpogrom

Verwandte Begriffe

Deportation


Ghettohaus

Verwandte Orte

Auschwitz


Gaußstraße 14


Theresienstadt

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