Aussage des Zeugen Mauritius Berner gegen den Angeklagten Victor Capesius

Dr. Mauritius Berner, um 1968

Zwillingstöchter Nora und Helga Berner, 1939

Dr. Victor Capesius, 1960

Der Auschwitz-Überlebende Mauritius Berner sagte gegen den Angeklagten Victor Capesius aus, einen ehemaligen Bekannten aus seiner Heimat. In bewegenden Worten berichtet er von der Begegnung mit Capesius an der Rampe von Auschwitz, den er erfolglos um Hilfe für seine Kinder bat.

 

Der Angeklagte Victor Capesius: Victor Capesius war bei Beginn des Prozesses 55 Jahre alt, er war verheiratet und hatte drei Kinder. Im Sommer 1943 meldete sich der Rumäne zur SS, im KZ Dachau war er stellvertretender Leiter der SS-Apotheke. Im Februar 1944 wurde er als SS-Sturmbannführer Leiter der SS-Apotheke nach Auschwitz versetzt, wo er bis zur Evakuierung von Auschwitz im Januar 1945 war. Anschließend wurde er in das KZ Mauthausen und später in das KZ Sachsenhausen versetzt. Nach dem Krieg kam er für kurze Zeit in britische Kriegsgefangenschaft. Im Sommer 1946 erkannte ihn ein ehemaliger Auschwitz-Häftling, woraufhin er von den Amerikanern inhaftiert und ein Jahr später wieder freigelassen wurde. Er arbeitete dann in Stuttgart in einer Apotheke, 1950 eröffnete er in Göppingen eine äußerst gut gehende Apotheke und einen Kosmetiksalon in Reutlingen.

 

Mauritius Berner und seine Aussage gegen den Angeklagten Capesius
Der Arzt Mauritius Berner war bei seiner Aussage gegen Capesius 62 Jahre alt, er lebte 1964 in Israel. Als jüdischer Ungar kam er gemeinsam mit seiner Frau und den drei kleinen Töchtern im Juli 1944 nach Auschwitz. Seine Häftlingsnummer war A-16.058. Seine Frau und die drei Töchter wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast. Er selbst wurde noch in weitere KZ-Lager verschleppt. In seiner Aussage vor dem Gericht berichtete er davon, wie er bei der Ankunft auf der Rampe in einem der SS-Männer, einen Bekannten aus seiner Heimat, Capesius, traf und ihn um Hilfe für seine Kinder bat.

 

„Da riß man das uns aus der Hand, besser gesagt ist ein deutscher Soldat an uns herangetreten und hat auch gesagt: ,Die Gepäcke müssen hier abgegeben werden!‘ Also daraufhin haben wir das dort abgegeben, neben den Waggonen aufgestellt. Und der Strom der Menschen ging vorwärts, und ich sagte meiner Frau, ich war mit Frau und drei Kinder, drei Töchterchen: ,Tut nichts. Hauptsache, daß wir fünf zusammen sind.‘ Und: ,Wir werden schon sehen, wie wir weiterkommen.‘ Kaum sagte ich das, tritt schon ein anderer Soldat zwischen uns und sagte: ,Männer nach rechts, Frauen nach links!‘ Und hat uns geteilt voneinander. Ich habe nicht einmal soviel Zeit gehabt, meine Frau umzuarmen. Sie hat mir nachgeschrien: ,Komm, küsse uns.‘ Vielleicht aus irgendeinem Fraueninstinkt hat sie eher gefühlt, was für ein Gefahr auf uns droht. Ich bin durch den Kordon wieder zu ihnen gelaufen, habe meine Frau geküßt und meine drei Kinder, und schon wieder hat man mich auf die andere Seite geschoben, und wir sind weiter vorangegangen. Parallel zwar, aber getrennt; zwischen den zwei Gleisen, zwischen den zwei Zügen, parallel aber getrennt. Dann; nicht wahr, die Menge hat mich auch weiter gestoßen, ich habe sie vor Augen verloren, meine Familie. Auf einmal höre ich nur: ,Ärzte und Apotheker sammeln sich hier.‘ Wir Ärzte und Apotheker sind alle mit dem Roten-Kreuz-Band an den Arm angekommen. Das hat ja auch dazu gehört, daß man das uns noch in Marosvásárhely, von wo; wo wir einwaggoniert waren, das uns erlaubt hat oder sogar anempfohlen hat, Ärzte und Apotheker sollen ein Rotes-Kreuz-Band an den Arm tragen. Habe ich mich auch an dieser Gruppe angestellt. Langsam waren wir schon 50, 60 oder 70 solche. Von unserer Stadt waren zirka 38 Ärzte und einige Apotheker […]

 

 

Vorsitzender Richter: Kamen. …
Wir standen dort, auf einmal drehten zu uns zwei deutsche Offiziere. Der eine, ein hoher, schön, jung aussehender Mann fragte uns freundlich: ,Wo haben die Herrschaften studiert? Sie zum Beispiel, Sie zum Beispiel?‘ Ich sagte ,in Wien‘, der andere ,in Breslau‘ und so weiter. Der zweite Offizier, das war der Doktor Capesius. Wir haben ihn erkannt, wir haben uns einer dem anderen zugeflüstert: ,Das ist doch der Doktor Capesius.‘ Den wir ja vorher kannten, er war doch oft bei uns Ärzte als Vertreter der IG-Farben Industrie. Und er sagte sogar, den zweiten Arzt; den zweiten Offizier, damals wußte ich noch nicht, wer das ist, jetzt weiß ich schon, daß es Mengele war: ,Ja, die Herrschaften haben ja fast alle im Ausland und meistenteils an deutschen Universitäten studiert.‘ Es war ein so ganz freundliches Gespräch entstanden, so daß ich mich ermutigt fühlte, den Doktor Mengele zu fragen: ,Wir haben unsere Diplome in den …‘

 

Vorsitzender Richter: Gepäckstü …
,Reisekoffers, in den Gepäcks, was wir dort niedergelegt haben. Dürfen wir das vielleicht herausnehmen?‘ Worauf Mengele nach einem kleinen Nachdenken sagte: ,Na ja, das könnten Sie ja noch brauchen. Gehen Sie, holen Sie das.‘ Wir sind zurückgelaufen, ich habe auch mein Gepäck herausgesucht und davon mein Diplom und einige Bilder meiner Frau und meiner Kinder zu mir genommen. Und wir sind zurück in der Ärzte- und Apothekergruppe. Inzwischen ist Mengele von uns weggegangen, und wir sahen daß, so wie er steht, unweit von uns, 20, 30 Meter entfernt, die Menge ihm gegenüber strömt, und er mit seiner Hand nach rechts und nach links deutet. Und so gehen einige Menschen nach rechts, und einige nach links. Frauen und Kinder zusammen nach links. Auf einmal sehe ich meine Frau und meine drei Kinder schon von Mengele weiter entfernt gehen. Und es fällt mir ein: Ich werde den Doktor Capesius eine Bitte vorlegen. Ich bin zu ihm angetreten und ich sage ihm: ,Herr Hauptmann‘, ich kenn-; ich habe die Distinktionen nicht gekannt, ,Ich habe zwei Zwillingskinder, die bedürfen einer größeren Schonung. Gestatten Sie; ich arbeite, was Sie wünschen, nur gestatten Sie mir, mit meiner Familie zusammenzubleiben.‘ Ich wußte ja nicht, warum wir dort waren, wohin sie zu gehen hatten. Fragt er mich: ,Zwillingskinder?‘ ,Ja.“ „Wo sind sie?‘ Ich zeige: ,Dort gehen Sie.‘ ,Rufen Sie sie zurück.‘, sagte er mir. Worauf ich meine Frau und meinen Kindern den Namen laut rufe. Und sie kehren um, und ich zeige ihnen, sie sollen zurückkommen. Sie kommen zurück, und sogar Doktor Capesius nahm die an der Hand, die zwei Kinder, und führt uns bis zum Doktor Mengele. Und an seinem Rücken stehen geblieben, sagt er mir: ,Na, sagen Sie ihm.‘ Und ich sagte wieder: ,Herr Kapitän‘, ich wußte nicht seine Distinktion, ,Herr Kapitän, ich habe zwei Zwillingskinder‘, wollte weiter sprechen, aber er sagte mir: ,Später, jetzt habe ich keine Zeit.‘ Und mit einer abwehrenden Handbewegung hat er mich weggeschickt. Doktor Capesius sagte: ,Also dann müssen Sie zurückgehen in Ihre Reihe. Gehen Sie zurück.‘ Und meine Frau und meine drei Kinder sind wieder an diesen Weg weiter gegangen. Ich begann zu schluchzen, und er sagte mir auf Ungarisch: ,Ne sírjon‘, ,Weinen Sie nicht. Die gehen nur baden. In einer Stunde werden Sie sich wiedersehen.‘ Da schrie ich noch meiner Frau und meinen Kindern Ungarisch nach und bin wieder zu meiner Gruppe zurückgegangen. Nie habe ich sie mehr gesehen. In dieser Sekunde war ich sogar in, in der Seele dankbar dem Doktor Capesius. Ich dachte, er wollte mir etwas Gutes tun. Nur später habe ich erfahren, was das bedeutet hat, Zwillingskinder dem Doktor Mengele in der Hand zu geben zu seinen Experimenten. Und ich habe auch die Erklärung gefunden, warum der Doktor Mengele nicht gemerkt hat, daß es Zwillingskindern sind. Er hat es ja wahrscheinlich gemerkt, er hat ein gutes Auge dafür gehabt, nur er hat sich nur mit eineiige Zwillinge beschäftigt. Und meine Zwillingskinder waren zweieiige, waren sich auch nicht ähnlich. Ich habe hier ihre Photographien, wenn das Hohe Gericht erlaubt, kann ich sie zeigen.

 

Vorsitzender Richter: Bitte schön.
Das war meine Frau. Das die große Tochter, und das waren die zwei kleineren, die Zwillinge. Also man sieht, sie waren sich nicht ähnlich.“

 

 

Gekürzter Text aus: Monica Kingreen, Der Auschwitz-Prozess 1963–1965. Geschichte, Bedeutung und Wirkung, (Pädagogische Materialien Nr. 8, Fritz Bauer Institut), Frankfurt am Main, 2004, S.58-59

Der Auschwitz-Überlebende Mauritius Berner sagte gegen den Angeklagten Victor Capesius aus, einen ehemaligen Bekannten aus seiner Heimat. In bewegenden Worten berichtet er von der Begegnung mit Capesius an der Rampe von Auschwitz, den er erfolglos um Hilfe für seine Kinder bat.



Autor/in: Monica Kingreen
erstellt am 01.01.2006
 

Verwandte Personen

Berner, Mauritius


Capesius, Victor

Verwandte Ereignisse

Erster Frankfurter Auschwitz-Prozess

Verwandte Begriffe

Auschwitz-Prozess

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