Zwangsarbeit in den nördlichen Frankfurter Stadtteilen Nieder-Eschbach, Nieder-Erlenbach und Harheim während der NS-Zeit

Zwangsarbeit in den nach 1945 eingemeindeten nördlichen Stadteilen Frankfurts.

 

Der Einsatz von Zwangsarbeitern in den nördlichen Frankfurter Stadtteilen Nieder-Eschbach, Nieder-Erlenbach und Harheim kam bisher bei den sowieso erst äußerst spärlichen Forschungsergebnissen zum Thema Zwangsarbeit in Frankfurt (ausgenommen der Forschungen zu den Adler-Werken) nicht in den Blick. Diese Vororte gehören erst seit 1972 zum Frankfurter Stadtgebiet, bis dahin waren sie verwaltungsmäßig eigenständige Gemeinden im Kreis Friedberg. In den Jahren 1939 bis 1945 wurden alle in diesen Ortschaften eingesetzten Zwangsarbeiter vom Landratsamt in Friedberg über die Bürgermeister der Orte verwaltet. Der gesamte Aktenbestand der Ausländerverwaltung des Landratsamtes Friedberg aus der NS-Zeit liegt heute im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt. Im Folgenden sind zu diesen Stadtteilen aus den Akten erste Hinweise, die im Zusammenhang mit meiner Übersicht zum Zwangsarbeitereinsatz im Kreis Friedberg entstanden sind, aufgeführt (siehe die "Lokalrundschau Wetteraukreis" der "Frankfurter Rundschau" vom 8. Februar 2000). Ausgehend von nüchternen Verwaltungsakten geben sie vor allem eine Vorstellung von der Größenordnung des Zwangsarbeitereinsatzes im nördlichen Frankfurt, der auch hier zum hohen Lebensniveau der deutschen Bevölkerung während des Krieges und zur Verlängerung des Krieges beitrug. Völlig fehlen bisher dagegen Forschungen zu den konkreten Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter in diesen Dörfern.

 

Die ersten Zwangsarbeiter in diesem ländlichen Gebiet waren nach der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht Kriegsgefangene und auch so genannte Zivilarbeiter aus Polen. Im März 1940 wurde mit den so genannten Polenerlassen aus rassistischen Gründen die gezielte Minderbehandlung dieser Menschen begründet. Sie wurden mit dem großen "P" markiert, das auf der rechten Brustseite zu tragen war, damit „der polnische Arbeiter zu jeder Zeit und von jedermann als solcher erkannt wird“. Von allen kulturellen Veranstaltungen waren sie ausgeschlossen, sie sollten möglichst „geschlossen untergebracht“ werden, auf sexuelle Kontakte mit deutschen Frauen stand die Todesstrafe, für andere „Vergehen“ waren „staatspolizeiliche Maßnahmen angedroht“. Nach der Besetzung der Niederlande, Belgiens und Frankreichs im Mai 1940 kamen auch aus diesen Ländern Zwangsarbeiter – und seit Sommer 1942 aus den besetzten sowjetischen Gebieten – in den Kreis Friedberg. Letztere wurden als so genannte Ostarbeiter bezeichnet, hatten die schlechtesten Lebensbedingungen und standen nach rassistisch-ideologischen Kriterien auf der untersten Stufe in der Hierarchie der Zwangsarbeiter. Sie sollten „in geschlossenen Lagern untergebracht werden“, so schrieb das Gießener Arbeitsamt an den Landrat in Friedberg, und „nicht mit der deutschen Bevölkerung in Berührung kommen, und außerdem auch nicht mit anderen ausländischen Arbeitern und Kriegsgefangenen zusammenarbeiten“. Ihre Unterkünfte, die die Ortsgemeinden zur Verfügung zu stellen hatten, sollten „ständig unter Bewachung gehalten werden“. Die „Ostarbeiter“ waren „ähnlich wie die Polen“ gezwungen, ein Erkennungszeichen zu tragen, ein großes quadratisches Abzeichen von sieben mal sieben Zentimetern mit weißer Schrift "OST" auf hellblauem Grund.

 

Nieder-Eschbach
Im April 1940 gibt es Hinweise auf 45 Polen in Nieder-Eschbach. Aus dem Kriegsgefangenenlager, dem Stalag, in Bad Orb kam im August 1940 ein Kommando von 28 kriegsgefangenen Franzosen, das auch bis 1945 blieb.

 

Im Frühjahr 1942 kamen die ersten Zwangsarbeiter aus den von der Wehrmacht besetzten sowjetischen Gebieten nach Zuweisung durch das Frankfurter Arbeitsamt. Die eingesetzten Arbeitskräfte „müssen ein Kennzeichen ‚Ost‘ , genau wie die Polen, an allen Kleidungsstücken tragen. Sie wollen mir deshalb Ihren Bedarf mitteilen“, forderte der Landrat den Bürgermeister auf. Für den Ort liegt eine Liste vom Sommer 1942 mit den Namen von 25 sowjetischen Zwangsarbeitern vor mit Angabe der Arbeitgeber: neun Frauen waren in dem Gemüseanbaubetrieb Jan van Velzen eingesetzt, acht Männer bei Heinrich Schaller, zwei bei Otto Reuter und weitere sechs bei einzelnen Bauern. Einige von ihnen sind nach einer Zeit „an das Arbeitsamt Frankfurt a/M. zurückgegeben worden“, andere wurden nach Eppertshausen abgemeldet, darunter die 13-jährige Hanna Sutko. „Sämtliche hier vorhandenen Arbeitskräfte vorstehender Art“, und damit meinte der Bürgermeister die sowjetischen Zwangsarbeiter, „tragen an den Kleidungsstücken das Kennzeichen Ost“, dies hatte er dem Landrat im März 1943 mitgeteilt.

 

Aus den besetzten Niederlanden waren Anfang November 1942 etwa 100 Männer nach Frankfurt gekommen und dort beim Polizeipräsidenten gemeldet. Sie mussten Zwangsarbeit für die Vereinigten Deutschen Metallwerke, die VDM, in Frankfurt-Heddernheim leisten. „Da der Kreis Friedberg als Ausweichbezirk für die Stadt Frankfurt“ fungierte, wurden sie in Nieder-Eschbach „lagermäßig untergebracht“. Dieses Lager der VDM- Zwangsarbeiter befand sich im Saal der örtlichen Gastwirtschaft von Christian Heftrich. Der 40-jährige holländische Zwangsarbeiter Hendrik van der May starb im Januar 1943, Todesursache „Lungentuberkulose“, er wurde auf dem Friedhof in Nieder-Eschbach beigesetzt. Im Mai 1943 ist aus einem Bericht der örtlichen Gendarmeriepostens zum Zwangsarbeiterlager zu erfahren: „Überwachung, Tag und Nacht durch einen Lagerverwalter vom Kupferwerk“. Anfang Mai 1943 hatte der Gutspächter Wilhelm Rettenmeyer, Hauptstraße 7, neun sowjetische Zwangsarbeiter beim Bürgermeister angegeben. Im Juni 1944 geht aus einer Aufstellung des Friedberger Landrates für die Gestapo in Darmstadt hervor, daß die VDM Luftfahrtwerke Frankfurt-Heddernheim ein Lager mit 85 Zwangsarbeitern in Nieder-Eschbach unterhielt.

 

Die Ton- und Ziegelwerke Hermann & Emmrich hatten im April 1943 21 Zwangsarbeiter eingesetzt, die Firma unterhielt ihr Zwangsarbeiterlager auf dem Firmengelände. „Die einzelnen Gemeinschaftslager befinden sich im Wohnbau des Betriebes, männlich unten im Gebäude und weiblich im oberen Stock“, so die Beschreibung des örtlichen Gendarms. Die Überwachung dieses firmeneigenen Lagers erfolgte durch den Werkmeister der Firma. Im Mai 1943 waren 31 Zwangsarbeiter für die Firma tätig.

 

Im Hofgut Wilhelm Schwenk, Borngasse 1, waren im April 1943 insgesamt 11 Polen eingesetzt. „Die einzelnen Gemeinschaftslager sind getrennt männlich und weiblich auf dem Hof untergebracht.“ Im Gemüsebaubetrieb Jan van Velzen, Borngasse, waren 12 Ausländerinnen, meist russische Frauen, eingesetzt. „Die einzelnen Gemeinschaftslager sind getrennt auf dem Hofe untergebracht“, so die damaligen Angaben.

 

Der Bürgermeister berichtete dem Landrat im Juni 1943 „daß in hiesiger Gemeinde an fremdländischen Arbeitskräften beschäftigt und untergebracht sind: 28 Kriegsgefangene, 71 Ostarbeiter und Arbeiterinnen, 95 Holländer und andere.“ Im Juni 1944 waren in Nieder-Eschbach insgesamt 207 Zwangsarbeiter untergebracht, von ihnen waren 122 Personen in Einzelstellen, meist bäuerlichen Betrieben, untergebracht. Das entsprach 20 Prozent der einheimischen Bevölkerung. 1949 wurden im Rahmen der sogenannten Ausländersuchaktion von den Vereinten Nationen die Namen der in Nieder-Eschbach während der NS-Zeit beschäftigten Ausländer beim Landratsamt in Friedberg zusammengestellt. Zählt man heute in diesen Verzeichnissen, die, die Namen der eingesetzten Arbeiter mit Geburtsdatum, zumeist Geburtsort, und Aufenthaltdauer genau angeben, zusammen, so ergibt sich eine Gesamtzahl von insgesamt von 772 Personen. Im einzelnen gehen aus diesen sogenannten F-Listen Stufe III die Personenangaben hervor für: 199 Polen und 5 Kleinkinder, 273 Holländer, 238 Menschen aus der Sowjetunion, 19 Belgier, 13 staatenlose Personen, 9 Tschechen , 8 Letten, 6 Jugoslawen und 2 Ungarn.

 

Nieder-Erlenbach
Als in Nieder-Erlenbach im April 1940 ein Butzbacher Fotograf im Auftrag des Landrates in Friedberg 19 Polen wegen der Lichtbilder für die Arbeitsausweise fotografieren wollte, hätten ihn einige Männer darauf hingewiesen – so berichtete er dem Landrat – „sie seien nicht polnischen Volkstums, sondern Ukrainer und würden sich weigern, das P zu tragen“. Der Landrat informierte sowohl das Arbeitsamt in Frankfurt, das diese Zwangsarbeiter zugewiesen hatte, als auch die zuständige Gestapostelle über diesen Vorfall. Aus dem im November 1939 in dem ehemaligen Frankfurter Schullandheim Wegscheide bei Bad Orb errichteten Kriegsgefangenenlager Stalag IX B wurde das Arbeitskommando 38 mit 25 Personen Ende November 1939 nach Nieder-Erlenbach verlegt und blieb dort bis 1945. Dabei dürfte es sich um polnische Kriegsgefangene gehandelt haben. Im Laufe des Jahres 1940 wurden viele von ihnen entlassen, um als Zivilarbeiter bei den Bauern in der Landwirtschaft zu arbeiten. Hier betraf dies 21 Polen. Vom September 1940 liegt eine Liste des Bürgermeisters über 30 Polen und Ukrainern vor.

 

Für sowjetische Zwangsarbeiter forderte der Bürgermeister im Herbst 1942 Kennzeichen für die „Ostarbeiter“ in seinem Ort an. In den großen landwirtschaftlichen Betrieben (mit mehr als 10 Angestellten) waren im April 1943 insgesamt 81 Ausländer eingesetzt: im Hofgut E. Stein 16, bei Rudolf Schuch 9, Karl Mehl 15, bei O. Leinenkugel 10, Wilhelm Schüler 9, bei A. Cost 6, bei A. Rach 8, bei Adolf Lehmann 9, bei Albert Kunna ebenfalls 9. In der Präzisions-Werkzeug Fabrik Wilhelm Wörner KG waren 14 Franzosen eingesetzt. Das Zwangsarbeiterlager befand sich als sogenanntes „Gemeinschaftslager“ in der „Turnhalle Nieder-Erlenbach.“ Dort erfolgte die „Überwachung durch den Arbeitgeber“.

 

Zwei Monate später, im Juni 1943, hatte sich die Zahl der Zwangsarbeiter bereits um die Hälfte erhöht: Insgesamt 159 und 10 Kinder. 121 Ausländische Zwangsarbeiter und 24 französische Kriegsgefangene waren in der Landwirtschaft tätig, bei der Firma Wörner 14 Zivilarbeiter. Ähnlich die Angaben ein Jahr später im Juni 1944. Die W. Wörner AG unterhielt zu dieser Zeit ein Lager, in dem vier Personen waren, dagegen waren 154 Menschen privat untergebracht. Diese Zahl entspricht mehr als 17 Prozent der Einwohnerzahl von Nieder-Erlenbach bei Beginn des Krieges.

 

Der „Ostarbeiter“ Josef Sawtschuk war seit dem Beginn des Frühjahr 1943 bei dem Bauern Alfred Cost in Nieder-Erlenbach eingesetzt. Nach einer Mitteilung der Geheimen Staatspolizei Darmstadt vom 18. Mai 1943 wurde er an diesem Tag „wegen Sabotage und Bedrohung in ein Konzentrationslager eingewiesen“. Der Landrat in Friedberg fragte im Dezember 1943 bei der Gestapo-Außenstelle Gießen nach, ob „mit der Rückkehr des Obengenannten nochmals zu rechnen“ sei. Nach der Antwort „Mit der Rückkehr … ist nicht mehr zu rechnen“ wies ihn der Landrat an, die „Arbeitskarte an das Arbeitsamt Frankfurt zurücksenden.“ Noch ist weder bekannt, was der Anlass für die Verhaftung durch die Gestapo war, noch wie das weitere Schicksal von Josip Sawtschuk war.

 

In einem lapidaren Schreiben des Bürgermeisters von Nieder-Erlenbach an den Landrat in Friedberg vom Februar 1944 findet sich ein Hinweis auf das ungeklärte Schicksal eines Zwangsarbeiters: „Betrifft: Den polnischen Zivilarbeiter Wladimir Scewczuk geb am 7.11.1920, beschäftigt bei Karl Mehl [Kirchgasse 14]. Da der Obengenannte am 28.1.1944 nach Darmstadt (Geheime Staatspolizei) abgeführt wurde, sende ich Ihnen hiermit die Papiere desselben wieder zurück.“ Von einigen Zwangsarbeitern liegen auch Fotos vor: so beispielsweise vom November 1943 dasjenige des erst 11-jährigen „polnischen Zivilarbeiters Eugeniusch Wischnewski, geb 27.11.1931, beschäftigt bei Friedrich Momberger, Landwirt, in Nieder-Erlenbach“, der mit seinen Eltern und der Schwester auf demselben Hof arbeitete.

 

Aus der Ausländersuchaktion der UN liegen Personenangaben im Darmstädter Archiv zu insgesamt 646 Menschen vor, im einzelnen: 222 Polen, 176 Italiener, 167 Personen aus der Sowjetunion und 1 Kind, 37 Tschechen, 20 Holländer, 8 Belgier, 3 staatenlose Personen, 3 Ungarn, 3 Jugoslawen, 3 Letten. Die Einwohnerzahl von Nieder-Erlenbach hingegen betrug im Mai 1939 nur etwa ein Drittel mehr, nämlich genau 918 Personen.

 

Harheim
Obwohl das Dorf Harheim mit 1.295 Einwohnern im Mai 1939 größer als Nieder-Eschbach und auch Nieder-Erlenbach war, gab es hier deutlich weniger Zwangsarbeiter. Es existierte kein Betrieb mit mehr als 10 Angestellten. Für April 1940 gibt es einen Hinweis auf sieben Polen. Im Juni 1943 meldete der Bürgermeister dem Landrat insgesamt 37 Zwangsarbeiter in seinem Dorf: „keine Kriegsgefangenen, 8 männliche Polen, 12 weibliche Polen, 1 weibliche Ukrainer, 9 männliche Ostarbeiter, 7 weibliche Ostarbeiter.“ Die Listen der Ausländersuchaktion führen jedoch insgesamt 137 Personen einzeln auf: 80 Polen, 44 Menschen aus der Sowjetunion, die zumeist mehrere Jahre hier gewesen waren, 6 Belgier, 5 Litauer, 2 Holländer.

 

 

Über die Situation der jahrelang unterdrückten und ausgebeuteten Zwangsarbeiter nach ihrer Befreiung durch die Amerikaner Ende März 1945 gibt wenige Wochen nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur das Schreiben des Bürgermeisters von Nieder-Eschbach vom 19. April 1945 bezeichnende Hinweise über die dörfliche Bevölkerung in ihrem Verhältnis zu den nun befreiten Zwangsarbeitern: „Das Verhalten der Ausländer hier in Nieder-Eschbach. In den Baracken der früheren Flakeinheit in Nieder-Eschbach haben sich seit mehreren Tagen schon eine Anzahl Ostarbeiter niedergelassen, deren Zahl sich durch ständig Hinzukommende vermehrt. Z.Zt befinden sich hier 40–50 Mann. Das Verhalten dieser ist hier kaum noch erträglich. Es vergeht keine Nacht, daß sie nicht in die Wohnungen einbrechen und stehlen, was vor sie kommt. Dies erleichtert ihr Gebaren insofern noch, daß sie diese Einbrüche mit Schusswaffen, die sie zum Teil bei sich führen, begehen. Die Bevölkerung ist hierüber höchst beunruhigt und getraut sich nicht, schlafen zu legen. Selbst der eingesetzte Hilfspolizist ist machtlos und wird von diesen (Ostarbeitern) nachts mit Erschießen bedroht.“

 

Von den mehr als 1.500 Menschen, die in den nördlichen Vororten Frankfurts während der NS-Zeit waren, dürften noch zahlreiche Personen leben. Sie in ihren Heimatländern zu suchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, sie einzuladen, ihre Verfolgungsgeschichten kennenzulernen und zu dokumentieren, erscheint mir neben der bisher unterbliebenen materiellen Entschädigung als notwendige moralische Verpflichtung, für deren Umsetzung nur noch wenig Zeit ist und die Mitgefühl und Engagement erfordert.

 

 

Übernommen aus: Frankfurter Rundschau vom 27. 7. 2000 (Beilage Stadtteile Frankfurt, Seite Nördliche Stadtteile).

 

 

Zwangsarbeit in den nach 1945 eingemeindeten nördlichen Stadteilen Frankfurts.



Autor/in: Monica Kingreen
erstellt am 01.01.2003
 
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