„Willst Du gesund bleiben?“ Empfehlungen für das Verhalten im Widerstand

Ein im Oktober 1933 aus den Niederlanden auch nach Frankfurt am Main gebrachtes Flugblatt „Willst Du gesund bleiben?“ der Internationalen Berufssekretariate der Transportarbeiter, der Fabrikarbeiter und der Privatangestellten gibt detaillierte Empfehlungen für richtiges Verhalten im Widerstand.

 

Willst du gesund bleiben?

 

 

Deutsche Arbeiter und Angestellte, Kollegen!

 

Wir wandten uns in einem unserer Flugblätter an euch mit der Feststellung: Die Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung sind vernichtet, aber die Bewegung lebt. Wir riefen euch auf, die Reihen neu zu schliessen. Heute geben wir euch eine Sammlung von Richtlinien zum Aufbau einer neuen Arbeit. Wem sie allzu nüchtern und zu wenig schwungvoll erscheinen, dem sagen wir im voraus: Das Werk, zu dem Leidenschaft uns treibt, kann nur gelingen, wenn wir das Aeusserste an Besonnenheit aufbieten. Besonnenheit erscheint freilich leicht als nüchtern und schwunglos; aber doch nur, wenn man ihren Grund nicht kennt. Und vor allem: Besonnenheit ist etwas ganz anderes als Feigheit. Unsere Richtlinien sind gerade nicht für Feiglinge geschrieben. Wir wenden uns an die Einsichtsvollen unter den Mutigen. Wir wollen ihnen beim eigenen - sicher längst begonnenen - Kampf gegen Nachlässigkeit, Unachtsamkeit und Unbesonnenheit helfen. Denn das sind die schlimmsten Feinde unserer Wiederaufbauarbeit, gefährlichere als die Faschisten selber.

 

Damit dies Blatt wirklich eine Hilfe ist, fordern wir dich auf, Kollege, der du es studierst: Ueberlege beim Lesen jedes Punktes, ob du dich bisher den Richtlinien gemäss verhalten hast. In welchen Fällen nicht? Hattest du da einen guten Grund für ein anderes Verhalten? - Richtlinien, die das unter allen Umständen Richtige raten, können wir natürlich nicht geben ! - Oder hast du bisher nicht vorsichtig genug gearbeitet? - Heb dir dies Blatt nicht auf. Aber merk dir genau. welche Richtlinien dir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen sind und bitte einen vertrauten Kollegen, dich an deren Einhaltung immer wieder zu erinnern (am besten regelmässig, etwa alle 14 Tage) - so lange, bis du sie ganz in dich aufgenommen hast. Leiste du ihm denselben Dienst. So könnt ihr euch gegenseitig schulen und eure Arbeitskraft erhöhen.

 

Noch eine Bitte vorweg: Ergänze diese Richtlinien im Kreise vertrauter Kollegen; wir können begreiflicherweise nicht alle Ratschläge drucken, die wir zu geben haben.

 

1.) Sei nicht schwatzhaft, auch nicht gegenüber Verwandten, auch nicht gegenüber dem Gatten oder Verlobten - Du kennst das Wort „Der trinkende Arbeiter denkt nicht.“ Und wir fügen hinzu: „und schweigt nicht“. Lass jede Ruhmredigkeit! Heute kann man in Deutschland von fast allen tätigen Kollegen genau erfahren, was ihre Organisation beziehungsweise deren Reste leisten. Man braucht sie nur etwa anzureden: „Das hat mich aber sehr enttäuscht, dass ihr nichts unternehmt.“ Dann erzählen sie einem bereitwillig alles, was sie unternommen haben und planen.

 

2.) Vorsicht vor Spitzeln! Wände haben Ohren. In Treppenhäusern schweige grundsätzlich. Wenn nicht ungewöhnliche Fälle vorliegen, sollte nur die persönliche Einführung durch einen Bekannten als Ausweis genügen. Wer nur mit einem schriftlichen Ausweis zu dir kommt, den behandele zunächst ziemlich fremd, stelle ihm Kontrollfragen. Wer ein altes oder gar ein neues Mitgliedsbuch einer sozialistischen Organisation vorzeigt, den behandele als Spitzel.

 

3.) Benimm dich unauffällig: Mache es allen Fremden schwer, dich als Gegner des Faschismus zu erkennen. Passe die Kleidung der Umwelt an, in der du dich bewegst. Flüstere nicht geheimnisvoll, wenn Fremde es merken können. Schreibe nicht stundenlang auf der Maschine, vor allem nicht bei Nacht. Sorge dafür, dass an keine Adresse mehr Briefe gehen, als für ihren Inhaber normal erscheinen kann. Besondere Vorsicht bei Auslandspost, Eilbriefen und Telegrammen. Deckadressen möglichst oft wechseln. Verschenke keine Bilder von dir. Achte darauf, dass auf alten Bildern keine Parteiabzeichen sichtbar sind.

 

4.) Vermindere von vornherein die Gefahr von Haussuchungen und Durchsuchungen! Behalte Adressen möglichst im Kopf. Telefonnummern notiere überhaupt nicht: Du kannst sie ja in einem Telefonbuch nachschlagen oder bei der Auskunft erfragen. - Lege keine Reliquiensammlung an. Weg mit alten Briefen, Bildern, Zeitungen und Broschüren! In einer westdeutschen Stadt hat eine liebevoll verpackte Reichsbannertrommel ihren Besitzer ins Konzentrationslager gebracht! - Wenn du wirklich etwas aufheben musst, dann merke dir die Stelle gut, an der du es versteckt hast; sonst kommst du in die peinliche Lage, beim Drohen mit einer Haussuchung erst selber eine langwierige Haussuchung vornehmen zu müssen.

 

5.) Vorsicht beim Literaturvertrieb: Aktenmappen sind kein geeigneter Behälter für illegale Literatur. Trage verfängliches Material möglichst lose in der Tasche, damit du es im Gefahrfall unauffällig wegwerfen kannst. Flugblätter kannst du auch verschlucken, wenn du nicht zuviel bei dir hast (Üben!) - Mache aus der Verteilung keinen Sport. Jedes ordentliche Flugblatt, jede gute Broschüre soll viele und aufmerksame Leser finden. Das mehr oder minder wahllose massenhafte Verteilen kommt im gegenwärtigen Stadium unserer Arbeit noch nicht in Frage.

 

6.) Vorsicht bei Zusammenkünften: Die Teilnehmerzahl sollte im allgemeinen 5-10 nicht überschreiten. Nicht regelmässig am selben Wochentag zur selben Stunde am selben Orte zusammenkommen. Keine Fahrradanhäufung! Nicht gleichzeitig, sondern in vorher verabredeten Abständen kommen und gehen. Zu Beginn über einen der Polizei plausiblen Zweck verständigen. Versammlungen sind keine Gelegenheiten, um illegale Literatur zu verteilen oder auszutauschen. Verabrede dafür andere Treffpunkte und -zeiten; gib der Bequemlichkeit nicht nach! Ehe du zu einer Zusammenkunft gehst, nimm alles heraus aus deinen Taschen, was nicht entweder völlig harmlos oder zur Zusammenkunft dringend notwendig ist; behalte möglichst kein, aber jedenfalls nicht mehr illegales Material bei dir, als du verschlucken oder rasch verbrennen kannst (Vorbereiten!). Taschen nicht zu selten gegenseitig kontrollieren.

 

(....)

 

9) (...) Zieh in diese Zirkel nur Menschen, die mehreren in Zirkeln bereits tätigen Kollegen gut bekannt sind und die von ihnen empfohlen werden. In einen Zirkel sollte keiner aufgenommen werden, wenn auch nur ein Zirkelmitglied dagegen Widerspruch erhebt. Es ist besser, zehn wirklich gute Kollegen arbeiten ausserhalb der Zirkel, als dass ein Verräter mehrere Zirkel vernichtet. - Um die Gefahr des Verrats und der Unvorsichtigkeit zu vermindern, bringe neue Mitstreiter zunächst nicht in alte Zirkel.

 

Zur Sicherung der Arbeit solcher Zirkel seien noch zwei Maßnahmen genannt: Ein Verhafteter kann seinen Freunden meist keine Nachricht über seine Verhaftung geben. Es ist aber wichtig, dass sie bald davon Kenntnis erhalten. Das lässt sich nur dadurch sichern, dass das Ausbleiben einer regelmässigen Meldung als Signal dient. Vereinbart also, dass jedes Zirkelmitglied sich bei einem anderen in kurzen Abständen (etwa an zwei festgelegten Wochentagen) mündlich, schriftlich oder telefonisch meldet; wenn die Meldung einmal ausbleibt, so ist das das Warnungssignal, das an alle in Frage kommenden Bekannten des Verhafteten weitergegeben werden muss. - Sichert in ähnlicher Weise, dass vom Gegner beobachtete oder sonst gefährdete Wohnungen gemieden werden. Das unter den Zirkelmitgliedern zu vereinbarende Warnungssignal besteht am besten nicht darin, dass irgendetwas ins Fenster oder auf den Balkon gestellt. sondern darin, dass dort etwas weggenommen wird. Im Fall einer Haussuchung kann man unauffälliger einen Packen Wäsche, der unordentlich auf dem Fensterbrett liegt, wegnehmen, als einen Blumentopf dorthin stellen.

 

10.) Der Sozialismus lebt auch in Deutschland noch. Hilf auch du, an seiner Erstarkung zu arbeiten, und zwar in der Form, die den Umständen und den bisherigen Erfahrungen entspricht. Darauf kommt alles an. Für Mitarbeiter in den Zirkeln ist die strengste Auslese erforderlich. Es kann sich heute nur um die Schaffung eines zuverlässigen Kerns handeln. Das Beispiel der bisherigen von Spitzeln und Verrätern durchsetzten Arbeiterbewegung steht warnend vor uns. Prüfe jeden in Frage kommenden Kollegen darauf hin, ob er zuverlässig ist, ferner ob er bereit und fähig ist, nach den hier gegebenen Richtlinien zu arbeiten. Ungestüme Draufgänger sind im gegenwärtigen Zeitpunkt als Mitarbeiter völlig ungeeignet, sie sind geradezu Handlanger des Gegners. Was wir in den Zirkeln zur mühevollen und langwierigen Wiederaufbauarbeit brauchen, das sind Männer und Frauen mit reinem Willen und mit kühner Leidenschaft, die gebändigt ist durch Besonnenheit.

 

Es lebe der Sozialismus!

 

DIE INTERNATIONALEN, BERUFSSEKRETARIATE DER TRANSPORTARBEITER DER FABRIKARBEITER. UND DER. PRIVATANGESTELLTEN.

Ein im Oktober 1933 aus den Niederlanden auch nach Frankfurt am Main gebrachtes Flugblatt „Willst Du gesund bleiben?“ der Internationalen Berufssekretariate der Transportarbeiter, der Fabrikarbeiter und der Privatangestellten gibt detaillierte Empfehlungen für richtiges Verhalten im Widerstand.


erstellt am 01.01.2003
 

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