Die „Miersch-Liste“: „Arisierung“ jüdischer Immobilien durch die Stadt Frankfurt am Main

Titelblatt der ”Miersch-Liste”, 11. Juli 1945.

Stadtrat Adolf Miersch (nach 1945).

Fasste man die Flächen aller “arisierter” Immobilien der “Miersch-Liste” zusammen, so entspräche das der Stadtfläche Frankfurts innerhalb des Anlagenrings.

Die sogenannte „Miersch-Liste“ ist eine Zusammenstellung aller Immobilien, die sich die Stadt Frankfurt am Main in der Zeit des Nationalsozialismus angeeignet hat. Das im Institut für Stadtgeschichte erhaltene Exemplar umfasst 14 Seiten und enthält chronologisch geordnet rund 170 verschiedene Immobilien mit einer Gesamtfläche von mehr als einer Million Quadratmeter. Erstellt hat diese Liste Stadtbaurat Adolf Miersch im Juli 1945.

 

 Im Mai 1945 schreibt der vom US-Militärgouverneur eingesetzte Frankfurter Oberbürgermeister Wilhelm Hollbach einen kurzen Brief an die US-Militärregierung: „Ich werde alle Fälle feststellen lassen, in denen die Stadtgemeinde Frankfurt a.M. Grundbesitz und Häuser erworben hat. Die hierüber abgeschlossenen Verträge betrachte ich nicht als rechtsverbindlich. Ich stehe auf dem Standpunkt, dass die Kaufobjekte den früheren Eigentümern oder ihren Erben zurückzugeben sind unter der Voraussetzung, dass die Stadtgemeinde den Kaufpreis und ihre sonstigen Gegenleistungen zurückerhält.“1

 

Noch im Mai 1945 ist der jüdische Grundbesitz Gegenstand einer Amtsleiterbesprechung, in der Magistratsrat Adolf Miersch Erläuterungen zur Situation macht. Er ist dafür der geeigneteMann, denn Miersch war der wichtigste städtische Akteur bei der Aneignung jüdischer Immobilien durch die Stadt. Miersch, bis 1928 Bürgermeister von Fechenheim, wird nach der Eingemeindung in städtische Dienste übernommen. Er kommt in das von Ernst May geleitete Siedlungsamt, zunächst als Magistratsrat, dann als Obermagistratsrat und gehörte zu den Stellvertretern Ernst Mays. Miersch, von 1919 bis 1933 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), bleibt auch nach dem Machtantritt der NSDAP im städtischen Dienst. Gegen den Vorwurf, er sei an den Wohnsiedlungen Ernst Mays beteiligt gewesen, verteidigt er sich mit der Behauptung, er habe bereits früher die unwirtschaftliche Bauweise der May-Siedlungen kritisiert und persönlich die Gartenstadtsiedlung Goldstein2 verhindert. Miersch, der nicht der NSDAP beitritt, bleibt Dienststellenleiter der Abteilung Wohnungsbauförderung.3

 

Die Amtsleiterbesprechung im Mai 1945 wird durch einen Vertreter der Militärregierung unterbrochen. Anlass für Miersch, seine mündlichen Ausführungen aufzuschreiben und dem Oberbürgermeister zukommen zu lassen. Miersch beginnt diesen Brief am Donnerstag, den 7. Juni 1945 und wird mit Datum vom Montag, dem 11. Juni 1945 von Miersch unterschrieben. und an den Oberbürgermeister geschickt. Darin schreibt er: „Ich habe bereits mündlich darauf vorgetragen, dass ich die Verhandlungen wegen der größeren Ankäufe aus jüdischem Besitz persönlich geführt habe.“ Es folgt eine in vier Punkte gegliederte Verteidigungsschrift, die mit der Behauptung endet: „Unsere Aufgabe war es in der Hauptsache zu verhüten, dass der jüdische Grundbesitz zu Schleuderpreisen in die Hand Dritter kam. Diese Aufgabe haben wir trotz der großen Schwierigkeiten infolge versuchter Beeinflussung gradlinig erfüllt. Ausdrücklich betont Miersch: „Die Einzelliegenschaften, die die Stadt im Laufe der Jahre aus jüdischem Besitz angekauft hat, wurden meistenteils von Grundstücksmaklern im Auftrage der Eigentümer angeboten. Auch hier haben Einwirkungen auf den Willen der Eigentümer nicht stattgefunden.“4

 

Am 25. Juni 1945 bittet Oberbürgermeister Hollbach Obermagistratsrat Miersch in den nächsten zwei Wochen „zur Vorlage bei der Militärregierung…die von der Stadtgemeinde seit dem 30.1.1933 erworbenen bebauten und unbebauten Liegenschaften, ihre früheren Eigentümer und Verwalter, sowie den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses nebst den Kaufbedingungen in einer Liste zusammenzustellen…“. Der Betreff dieses Briefes verdeutlicht, dass es in diese Liste um den „Haus und Grunderwerb der Stadtgemeinde von Juden“ gehen soll.

 

Miersch kann auf eine Zusammenstellung aus dem Jahre 1943 zurückgreifen. Am 2. Februar 1943 hat der Regierungspräsident in Wiesbaden den Frankfurter Oberbürgermeister über eine Anordnung des Reichsverteidigungskommissars Jakob Sprenger informiert, „daß ihm ein Verzeichnis aller Grundstücke vorgelegt werde, die die Stadt Frankfurt a/Main seit dem Jahre 1933 aus jüdischen Händen zu Eigentum erworben hat. In dem Verzeichnis soll bei jedem Grundstück die derzeitige Art der Verwendung angegeben werden.“5

 

Das Bauamt wird mit der Zusammenstellung der Liste beauftragt und braucht dafür Zeit. Die vom Hauptverwaltungsamt gesetzte Frist bis 20. Februar 1943 verstreicht und wird bis zum 28.2.1943 verlängert.

 

Eine weitere Woche später, am 7. März 1943 schreibt das Bauamt an den Frankfurter Oberbürgermeister Krebs: „Gemäss dem beigefügten dem Bauamt durch den Herrn Regierungspräsidenten unmittelbar zugegangenen Ersuchen des Reichsverteidigungskommissars Rhein-Main vom 25.1.1943 wird die Übersicht über die seit 8.11.1938 von der Stadt erworbenen Grundstücke verlangt. Wir empfehlen deshalb, unsere Angaben lediglich auf die Zeit seit dem 8.11.38 zu beschränken. Entwurf des Antwortschreibens ist beigefügt. Ferner übergeben wir gleichzeitig das Verzeichnis über die seit 1933 erworbenen Grundstücke aus jüdischem Besitz.6

 

Es scheint also unterschiedliche Angaben über den Zeitpunkt gegeben zu haben, ab dem die Liste aufzustellen sei.

 

Am 10. März mahnt der Regierungspräsident die Beantwortung seines Erlasses vom 2. Februar an. Das Hauptverwaltungsamt Frankfurt – das möglicherweise noch keine Kenntnis davon hat, dass die Liste dem Oberbürgermeister am 7. März zugegangen ist – mahnt daraufhin das Bauamt am 15. März 1943 und ersucht um „sofortige Vorlage.“ 7

 

In den Magistratsakten existiert ein Entwurf eines Schreibens an den Regierungspräsidenten in Wiesbaden vom 18. März 1943. Dort wird eine Anlage angekündigt, die die Grundstücke aus jüdischem Besitz verzeichnet, welche die Stadt seit dem 8. November 1938 erworben hat.8

 

Unmittelbar danach findet sich in der Akte ein auf den 2. Mai 1943 datiertes Schreiben des Bauamts an den Oberbürgermeister „Verzeichnis der Grundstücke, die die Stadt Frankfurt am Main seit 1933 aus jüdischem Besitz erworben hat“ mit zwei angefügten Listen, die sich erhalten haben. Die erste Liste umfasst 70 Positionen, sie beginnt am 20.4.1936 und endet am 20.10.1938. Die zweite Liste umfasst den Erwerb ab dem 8.11.1938. Sie umfasst 62 Positionen (darunter sind teilweise mehrere Immobilien zusammengefasst) und beginnt am 10.11.1938 und endet am 24.2.1943.9

 

Miersch lässt im Sommer 1945 die Liste nahezu unverändert abtippen. Es gibt nur geringe Abweichungen: So fehlt die letzte Position in der Liste von 1943 auf der Liste von 1945. Es handelt sich um die Liebigstraße 60, die von der Reichsvereinigung der Juden übernommen wurde. In der Liste von 1945 finden sich zwei Positionen, die auf der Liste von 1943 fehlen: Das ist zum einen die Hochstraße 8, die am 2.12.1941 übernommen wurde und zum anderen die Mainzer Landstraße 53/57 mit dem Neuen Theater. In der Liste von 1945 ist das die zeitlich letzte Position, die nicht datiert ist.

 

Miersch schickt diese Liste am 11. Juli 1945 in zwei Exemplaren an den Oberbürgermeister. Sie umfasst 14 Seiten und verzeichnet chronologisch geordnet vom 20. April 1936 bis zum 30. November 194210 insgesamt 135 Positionen, die insgesamt 170 einzelne Häuser und Grundstücke enthalten.11 Nach dieser Liste hat die Stadt 581.000 qm bebaute Flächen (Grundstücke mit Häusern) und 567.000 qm unbebaute Flächen in ihren Besitz gebracht.12 Durchschnittlich wurden weniger als 19 Reichsmark für bebaute Flächen und weniger als 3 Reichsmark für unbebaute Flächen bezahlt. Ob die Verkäufer dieses Geld erhielten, ist nur durch das Studium der Entschädigungsverfahren aufzuklären. Bei rascher Durchsicht dieser Akten stößt man in zahlreichen Fällen auf Formulierungen wie Sperrkonten, Abführungen an das Finanzamt für Strafsteuern oder anderer Hinweise, nach denen die Verkäufer über das Geld nicht verfügen konnten.
 

 

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Das Titelblatt der sogenannten „Miersch-Liste“ zählt alle Rechtsvorschriften vom Wohnsiedlungsgesetz (September 1933) bis zur Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens (November 1938) auf und macht damit nachträglich die massive Enteignung der jüdischen Frankfurter Bevölkerung zu einem bürokratischen Vorgang der nach Recht und Gesetz erfolgte. In den städtischen Akten findet sich, mit Ausnahme der eingangs zitierten Bemerkung des Oberbürgermeisters, kein einziger Vermerk, der Bedauern oder Scham über diese Vorgänge ausdrückt oder die eigene Rolle der Stadt im „Arisierungsprozess“ problematisiert. Ganz im Gegenteil. Adolf Miersch, der in der Amtsleiterbesprechung am 7. August 1945 aufgefordert wird, die genaueren Umstände zu beschreiben, unter der diese Immobilien an die Stadt gekommen ist, umschreibt die Rolle der Stadt so: „Die Stadt wollte nicht in die Reihe der Aasgeier gezählt werden, die sich an jüdischem Besitz bereicherten.“13

 

Einzelstudien, wie zum Beispiel die Vorgänge um den Verkauf der Immobilie Forsthausstraße 70 aus dem Besitz der Familie Beit von Speyer an die Stadt, belegen, wie die Stadt Druck auf die Verkäufer ausübte und den Verkaufspreis drückte.14 Heute ist dieses Gebäude der historischer Teil des Hotels Villa Kennedy in der Kennedyallee 70.

Adolf Miersch wird im September 1945 zum Stadtrat ernannt und leitet das Tiefbauamt, ab 1954 auch das Hochbauamt und verantwortet in dieser Funktion den modernen WiederaufbauFrankfurts. Er stirbt mit 68 Jahren am 13. Dezember 1955 in Frankfurt am Main. Die gerade im Bau befindliche Siedlung in Niederrad und der Straßenabschnitt zwischen dem Bahnhof Niederrad und der Triftstraße erhalten seinen Namen.

Eine systematische Erforschung und Dokumentation der Miersch-Liste und der darin aufgeführten und entzogenen Immobilien im Nationalsozialismus liegt bisher nicht vor.

 

Ende 2018 hat die Stadtverordnetenversammlung beschlossen, dem gemeinsamen Antrag der CDU, der SPD und der GRÜNEN vom 12.09.2018 zuzustimmen: „Der Magistrat wird gebeten, eine Studie vorzubereiten, in der die historische Rolle der Stadt Frankfurt und ihrer kommunalen Behörden im Rahmen der "Arisierung" jüdischer Grundstücke und Immobilien aufgearbeitet wird.“15 Das Kulturamt der Stadt Frankfurt hat das Fritz-Bauer-Institut mit der Durchführung beauftragt.

 

Anmerkungen

 

1 ISG Magistratsakten 9.797

2 May hatte für Goldstein 8.500 Wohnungen geplant und dies auf dem CIAM-Kongress 1929 in Frankfurt vorgestellt. Die Pläne wurden 1930 aus Finanznot zurückgestellt. Von 1932 bis 1936 wurden 930 Häuser für Erwerbslose gebaut. Die Gebäude blieben weit unter dem Standard der May-Siedlungen zurück. Es gab weder Wasseranschluss noch Kanalisation und die im Rohbau erstellten Gebäude waren von den Bewohnern selbst auszubauen.

3 Jörg Schilling, Adolf Miersch, in: Frankfurter Personenlexikon (2017)

4 ISG Magistratsakten 9.797

5 Schreiben Regierungspräsident, Magistratsakte 9.366, ISG Frankfurt

6 Schreiben Bauamt, Magistratsakte 9.366, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

7 Schreiben Regierungspräsident und Mahnung Hauptverwaltungsamt, Magistratsakte 9.366, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

8 Entwurf Schreiben an den Regierungspräsidenten, Magistratsakte 9.366, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt

9 Schreiben Bauamt mit Anlagen, Magistratsakte 9.366, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt. Die Kaufpreise sind in beiden Listen nachträglich eingetippt worden.

10 Nach den Angaben auf dem Titelblatt der sogenannten „Miersch-Liste“ wurden vor 1936 und nach 1942 keine Immobilien aus jüdischem Besitz erworben. Das stimmt mindestens in einem Fall nicht. Nach einer Vorlage des Oberbürgermeisters Friedrich Krebs an die Gemeinderäte vom 23. Dezember 1942 ging der „jüdische Begräbnisplatz am Dominikanerplatz“ mit 10.850 Quadratmetern durch Vertrag vom 1. September 1934 in das Eigentum der Stadt über. ISG Magistratsakten 9.392.

11 Ein auf Durchschlagpapier gedrucktes Exemplar hat sich in den Akten erhalten. ISG Magistratsakten 9.797.

12 Eigene Berechnungen auf der Basis der Angaben in der „Miersch-Liste“. Nicht in allen Fällen sind die Flächen angegeben. Für insgesamt neun Immobilien fehlen die Flächenangaben, darunter beispielsweise die Villa Buchenrode Arthur von Weinbergs, die 41.610 Quadratmeter groß war. Das entspricht der Fläche von sechs Fußballfeldern.

13 ISG Magistratsakten 9.797

14 Dieter Wesp, Villa Kennedy – Wohnhaus, Forschungslabor, Luxushotel, Frankfurt a. M. 2016, S. 93 f.

15 Vorlage Stadtverordnetenversammlung 652/2018 t1p.de/ywzl

 

Literatur

 

Wesp, Dieter, Villa Kennedy – Wohnhaus, Forschungslabor, Luxushotel. Ein Stück Frankfurter Geschichte: von Reichtum und Raub, von Verdrängung und Neuanfang, von Privatisierung und neuem Luxus, Frankfurt am Main 2016



Autor/in: Dieter Wesp
erstellt am 25.03.2021
 

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