Kurt Gerum, geboren 1897, begann 1927 seine Arbeit als Arzt im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt. Im April 1933 wurde er dort zum Leiter der neu eingerichteten Abteilung für Erbbegutachtung, später umbenannt in Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Unter seiner Leitung wurde ein großer Teil der Frankfurter Bevölkerung „erbbiologisch“ in einer Kartei erfasst. Nach Kriegsbeginn wurde Gerum als Stabsarzt zur Wehrmacht einberufen, 1945 wegen seiner NS-Vergangenheit aus den städtischen Diensten entlassen; er starb 1966.
„Der Erbarzt darf heute die geschichtliche Wende erleben, da der Erb- und Rassegedanke in allen Verzweigungen des öffentlichen und privaten Lebens eindringt und dieses belebt, richtet und mitbestimmt. Es ist der Wille der Regierung, daß die Erb- und Rassenpflege an den Gesundheitsämtern gebührende Berücksichtigung findet.“
(Kurt Gerum, 1935)
Kurt Gerum kam 1897 in Stuttgart zur Welt. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Frankfurt am Main und Tübingen. 1924/25 wurde er in Frankfurt mit einer Doktorarbeit zum Thema „Einfluss der Conzentration auf das Wasserbindungsvermögen gelöster Kolloide im Organismus“ promoviert. Nach kurzer Tätigkeit in der Frankfurter Nerven- und Kinderklinik trat er 1927 als Arzt in den städtischen Dienst beim Gesundheitsamt ein. Dort versah er seine Arbeit gewissenhaft, aber eher unauffällig. Das änderte sich 1933 mit dem Regierungsantritt Hitlers und der Neuausrichtung des Gesundheitssektors nach rassenideologischen Prinzipien.
„Dienst am Volk“
Spätestens ab 1934 lag ein Schwerpunkt staatlicher Gesundheitspolitik auf dem Gebiet der so genannten Erb- und Rassenpflege einschließlich der Eheberatung, mit dem die Gesundheitsämter gemäß § 3 (1) des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens (GVG) vom 3. Juli 1934 betraut wurden. Das Frankfurter Amt erhielt durch diese rechtliche Bestimmung kein wirklich neues Tätigkeitsfeld, nahm doch eine seit April 1933 beim Stadtärztlichen Dienst eingerichtete Abteilung für Erbbegutachtung schon länger die genannten Aufgaben wahr. Diese Abteilung leitete Stadtarzt Kurt Gerum. Zwei Jahre später, 1935, wurde jene Erbbegutachtungsstelle umbenannt in Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Diese wiederum verpflichtete sich, im Stadtgebiet besondere Beratungsstellen zu unterhalten, um die Bevölkerung möglichst flächendeckend zu erfassen. Danach betreute Gerum in der Beratungsstelle I mit Sitz in der Braubachstraße 18-22 die Stadtteile nördlich des Mains; der inzwischen nach Frankfurt berufene Professor Otmar Freiherr von Verschuer übernahm in der Beratungsstelle II die Stadtteile südlich des Mains mit etwa 90.000 Einwohnern. Jene zweite Einrichtung war zudem angeschlossen an das 1935 gegründete Universitätsinstitut für Erbbiologie und Rassenhygiene und nahe dem Universitätsklinikum untergebracht.
Die kontinuierliche Verschärfung der Rassengesetzgebung, etwa mit Erlass des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933 oder den Nürnberger Gesetzen vom 15. September 1935, sowie eine institutionelle und personelle Verzahnung kommunaler Gesundheits- und Fürsorgeinstitute ließen den Einflussbereich der beiden Beratungsstellen stetig expandieren, so dass sie spätestens ab Kriegsbeginn am 1. September 1939 die Arbeit des Gesundheitsamtes dominierten. Zählten zu dem Aufgabenbereich Gerums anfänglich die Anlage einer „Erbkartei“ und eines „Erbarchivs“ zur „erbbiologischen Bestandsaufnahme“, „erbbiologische Sprechstunden“ und Eheberatung, so kamen ab 1935 auf der Grundlage weiterer einschlägiger Gesetze vermehrt die Beantragung von Sterilisations-, Einbürgerungs-, Ehebefreiungs- und Adoptionsverfahren hinzu. Kartei und Archiv wuchsen zwischen 1933 und 1943 von 30.000 auf 420.000 Einträge beziehungsweise von 60.000 auf 330.000 Gesundheitsakten an und repräsentierten reichsweit eines der größten derartigen Datenerfassungssysteme. Vor allem galt es als Kurt Gerums zweifelhaftes „Verdienst“, dass auf der Basis dieses verzweigten Melde- und Kommunikationsnetzes mehr als zwei Drittel der Frankfurter Bevölkerung „erbbiologisch“ registriert waren.
Die vormals selbstständige Eheberatung im Gesundheitsamt wurde 1935 den Beratungsstellen angegliedert, um dort in besonderen Sprechstunden Paare oder Bewerber im Rahmen der Antragstellung für Ehestandsdarlehen erbbiologisch zu belehren und ihnen gegebenenfalls „Ehetauglichkeitszeugnisse“ auszufertigen. Nach dem vom Reichsgesundheitsamt publizierten „Merkblatt für Eheschließende“ war es für jeden Heiratswilligen eine „heilige Pflicht gegen sich selbst, gegenüber seinem zukünftigen Ehegatten und den erhofften Kindern sowie dem Vaterland, … daß er sich vorher vergewissert, ob der wichtige Schritt zur Verehelichung mit seinem Gesundheitszustand sich vereinbaren läßt“. Bewerber für Ehestandsdarlehen mussten sich einem „Ermittlungsverfahren über Gesundheit und Erbgesundheit“ unterziehen, in dem alle Frankfurter Gesundheits- und Fürsorgeinstitutionen der Beratungsstelle Auskunft darüber gaben, ob die Antragsteller bereits aktenkundig geworden seien. Diese hatten einen Sippenfragebogen für die Familie, einen Personalbogen für Bewerber um ein Ehestandsdarlehen sowie einen Prüfungsbogen für die Eheeignung auszufüllen. Die abschließenden ärztlichen Gutachten fertigte in der Regel Kurt Gerum an. Bis April 1934 wurden etwa 1.242 Anträge auf Ehestandsdarlehen aufwändig geprüft mit dem pseudowissenschaftlichen Ergebnis, jedes fünfte Paar sei im NS-erbbiologischen Sinne für die Ehe „ungeeignet“.
Für seine Gutachten griff Gerum auch auf Akten der 1933 aufgelösten und in die Fürsorgestelle überführten Jugendsichtungsstelle zurück. Häufig lieferten darin ältere, noch von dem 1933 entlassenen Stadtarzt Walter Fürstenheim angelegte psychiatrische Expertisen nunmehr Grundlagen für Anstaltseinweisungen und Zwangssterilisationen.
Zudem unterstand der Abteilung für Erb- und Rassenpflege eine Beratungsstelle für Familienforschung, die bereits am 15. September 1933 im Frankfurter Stadtarchiv eingerichtet worden war. „Familienforschung ist außerordentlich wichtig“, berichtete das Städtische Anzeigeblatt knapp ein Jahr später, „weil sie die Grundlage für die Ausstellung eines Erb-Bildes abgibt, ohne welches eine Durchführung der nationalsozialistischen Aufartungs-Gesetzgebung undenkbar ist“. Die Stelle besorgte sich etwa „zum Zwecke des Nachweises arischer Abstammung für Behörden und Parteistellen“ Informationen über städtisches Personal bei den Pfarr- und Standesämtern, um diese an das Gesundheitsamt weiterzugeben. Das Stadtarchiv selbst übermittelte Amtsvormundschaftsakten und Schulzeugnisse an die Abteilung für Erb- und Rassenpflege, stellte dieser alle im Bestand vorhandenen städtischen Personalakten zur Verfügung und gab umgehend Nachricht, wenn neue Aktenregistraturen akquiriert waren. Laut Notiz Gerums war mit dieser Regelung „den rassenhygienischen Belangen auf dem Gebiet der Personalkaten befriedigend Rechnung getragen“. Kaum jemand konnte dem engmaschigen Erfassungsnetz entkommen oder sich vor Denunziation schützen.
Gerum war gefürchtet
Bei seinen Patienten war Kurt Gerum offensichtlich so unbeliebt, dass der Leiter des Stadtgesundheits- und Fürsorgeamtes Werner Fischer-Defoy sich verpflichtet fühlte, seinen Kollegen an höchster Stelle zu verteidigen. In einem Schreiben an Oberbürgermeister Friedrich Krebs erklärte der Amtsleiter entschuldigend, „daß Herr Dr. Gerum für einen Juden gehalten wird und daher an und für sich eine schwierige Stellung gegenüber einem Teil der Fürsorgepfleglinge hat“. Eine „schwierige Stellung“ hatte der Stadtarzt tatsächlich, dies jedoch, weil er als radikaler Befürworter nationalsozialistischer Erb- und Rassenpolitik nur selten das Vertrauen seiner Klientel erwerben konnte. Zudem überschritt Gerum wiederholt seine Kompetenzen. So bezeichnete er 1935 seine Abteilung öffentlich als „Erbgesundheitsamt“; der Begriff löste bei der Frankfurter Bevölkerung Furcht und Irritationen aus, so dass er von Fischer-Defoy sofort strikt untersagt wurde. Erntete Gerum mit dieser eigenmächtigen Aktion die Kritik seines Vorgesetzten, so stieß sein rassenpolitischer Eifer an anderer Stelle auf Wohlwollen. Der Oberbürgermeister selbst setzte sich umgehend für Gerum und eine Erweiterung seines gesetzlich fixierten Aufgabenbereichs ein. Da die Frankfurter Stadtverwaltung zum Beispiel an der raschen Erfassung eines zu sterilisierenden Personenkreises Interesse hegte, plädierte Krebs dafür, Gerum die „Berechtigung zur Stellung von Anträgen auf Unfruchtbarmachung“ zu erteilen; in seiner Funktion als Stadtarzt oblag diesem nämlich bislang lediglich die „erbbiologische Vorbereitung“ von Sterilisationsanträgen. Laut Erläuterungen zum GzVeN blieb diese Aufgabe indes allein den Amts- und Gerichtsärzten sowie Anstaltsleitern vorbehalten.
Spannungen bestanden auch zwischen Gerum und von Verschuer. Unmittelbar vor Eröffnung des Universitätsinstituts für Erbbiologie und Rassenhygiene argwöhnte Gerum, dass dessen neuer Leiter die Aufgaben der „Erbgesundheitspflege“ nunmehr an seinen eigenen Mitarbeiter delegiere und Gerum selbst als Vertreter des Stadtgesundheitsamtes unter Anweisung des Freiherrn in einem „Gastzimmer“ des Instituts sein berufliches Dasein fristen müsse. Diese Befürchtungen waren letztlich unbegründet. Unmittelbar nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs durch den Überfall des Deutschen Reiches auf Polen berief die Wehrmacht Kurt Gerum als Stabsarzt ein. Die Abteilung für Erb- und Rassenpflege erhielt im Januar 1940 mit Stadtärztin Carola Hannappel eine neue Leiterin. Noch 1938 war Gerum zum Medizinalrat und 1943 zum Obermedizinalrat befördert worden.
Biografischer Nachtrag
Zum 5. Juni 1945 wurde Kurt Gerum „wegen Zugehörigkeit zur früheren NSDAP“ aus dem städtischen Dienst entlassen. In einem Berufungsschreiben beteuerte er, Radikalismus, Judenverfolgung, primitive antisemtische Propaganda, die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ und gar seine Tätigkeit in der Abteilung für Erb- und Rassenpflege stets abgelehnt zu haben. Nur „das Gute, was die NSDAP brachte“, habe er anerkannt, und er verwies in der ihm eigenen Beschönigung des Nationalsozialismus auf den Autobahnbau und die Senkung der Arbeitslosenzahlen. Vorsichtig formulierte der Untersuchungsausschuss in seinem abschließenden Urteil, dass Gerum „in seiner weltanschaulichen Haltung einen schwankenden Eindruck“ mache und daher für den städtischen Dienst nicht mehr tragbar sei. Gegen eine Beschäftigung in freier Praxis bestünden allerdings keine Einwände. Wie so viele andere Täter reihte ihn die Spruchkammer 1948 in die Gruppe der „Mitläufer“ ein. Damals hatte Gerum gerade erst das 50. Lebensjahr überschritten; zu weiteren beruflichen Tätigkeiten gibt es aber keine Hinweise. Kurt Gerum starb am 22. Juli 1966; die Traueranzeige weist als letzte Amtsbezeichnung Oberregierungsmedizinalrat i. R. aus.
Literatur:
Monika Daum / Hans-Ulrich Deppe, Zwangssterilisation in Frankfurt am Main 1933-1945, Frankfurt am Main/New York 1991.
Heike Drummer, „Dienst am Volk“ – Nationalsozialistische Gesundheitspolitik in Frankfurt am Main, in: Stadtgesundheitsamt Frankfurt am Main (Hg.), Vom „stede arzt“ zum Stadtgesundheitsamt. Die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1992, S. 85-111.
Dies., „Stadt des deutschen Handwerks“, in: Lothar Gall (Hg.), FFM 1200. Traditionen und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994, S. 331–333.
Kurt Gerum, Erbarzt und Sonderschule, in: Der Erbarzt, 1. Jg. 1934, Heft Nr. 6, S. 89-91.
Ders., Ein Jahr Erbgesundheitsamt, in: Der Erbarzt, 2. Jg., Heft Nr. 1, S. 4-9.
Kurt Gerum, geboren 1897, begann 1927 seine Arbeit als Arzt im Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt. Im April 1933 wurde er dort zum Leiter der neu eingerichteten Abteilung für Erbbegutachtung, später umbenannt in Abteilung für Erb- und Rassenpflege. Unter seiner Leitung wurde ein großer Teil der Frankfurter Bevölkerung „erbbiologisch“ in einer Kartei erfasst. Nach Kriegsbeginn wurde Gerum als Stabsarzt zur Wehrmacht einberufen, 1945 wegen seiner NS-Vergangenheit aus den städtischen Diensten entlassen; er starb 1966.