An die zahlreichen jüdischen Menschen, die sich angesichts ihrer Verfolgung durch das NS-Regime selbst das Leben nahmen, erinnern auf dem Neuen jüdischen Friedhof in Frankfurt nach 1945 zunächst Holztafeln, ab 1957 Grabsteine. Insgesamt hat es in etwa 900 Fällen solche Freitode in Frankfurt gegeben.
„Ich habe Abschied von Frau [Lilly] Beran genommen, 64 1/2 Jahre – sie wird mit ihrer 86jährigen Mutter aus dem Leben gehen, man kann diesem Plan nicht widerraten … vor ihr liegt nur entsetzliches Grauen.“
(Tilly Cahn, 2. Mai 1942)
Auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße erinnern 839 Grabsteine an Menschen, die während der NS-Zeit durch eigene Hand aus dem Leben schieden. Verfolgungen, Demütigungen, die drohende Deportation oder die Angst vor dem qualvollen Sterben in einem Konzentrationslager sind Gründe für diese Verzweiflungstaten gewesen. Unmittelbar nach dem November-Pogrom 1938 stieg die Zahl der „Freitoten“ sprunghaft an: die Zerstörungen jüdischer Einrichtungen, der Synagogen, Wohnungen und Geschäftsräume sowie die Deportationen jüdischer Männer nach Buchenwald und Dachau begriffen viele als Fanal der Vernichtung und entzogen sich ihrer nunmehr ungewissen Lebensperspektive durch Suizid.
Bewegende Zeugnisse zu diesem Thema liefern die sorgfältig edierten Tagebucheinträge von Tilly Cahn, christliche Ehefrau des jüdischen Rechtsanwalts Max L. Cahn. So vermerkte Frau Cahn für den 7. Mai 1941 die Selbsttötung von Vermögensverwalter Jonathan Sternau und für Ende Januar 1942 den Suizid des Kinderarztes Felix Blumenfeld aus Kassel, der bis zu deren „Arisierung“ Eigentümer der Frankfurter Asbestwerke war. Bereits am 31. Oktober 1941 – zeitlich zwischen den ersten beiden großen Deportationen aus Frankfurt – hatte sich Ernst Brasch, Regierungsrat i. R., das Leben genommen. Max L. Cahn kümmerte sich um die Räumung von dessen Wohnung. Im März 1942 starb Grete Catzenstein durch eine Überdosis Veronal; ihre Schwester Else Nonne folgte ihr am 14. Mai 1944 in den Tod. Letztere war nach nationalsozialistischer Terminologie in „Mischehe“ verheiratet und kinderlos, deshalb fiel sie nicht unter den Schutz der „privilegierten Mischehe“, vielmehr drohte ihr die Deportation. Am 7. Mai 1942 realisierten Lilli Beran, geb. Marx, und ihre 86jährige Mutter Chlothilde Marx, geb. Lichtenstein, den Entschluss, durch Selbsttötung aus dem Leben zu scheiden; damit entzogen sich beide Frauen der für den Folgetag anberaumten vierten großen Deportation nach Majdanek oder Izbica. „… man kann diesem Plan nicht widerraten“, notierte damals hilflos die Chronistin Tilly Cahn. Häufig waren erzwungene Scheidungen so genannter Mischehen der Grund für die Suizide, denn die jüdischen Ehepartner verloren anschließend den – unsicheren – Schutz vor einer gewaltsamen Verschleppung. Drei weitere Schicksale führt der Begleitkatalog zur 2005 im Jüdischen Museum Frankfurt gezeigten Ausstellung „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …“ über die Deportationen aus der Main-Metropole Frankfurt auf. Am 23. Januar 1939 tötete sich in Frankfurt der Großhändler und estnische Konsul Eduard Heinrich Schwarzschild. Unmittelbar nach dem November-Pogrom war seine renommierte Firma „Seidenhaus Schwarzschild-Ochs“ am Roßmarkt 13 „arisiert“ worden; das Geschäft hieß jetzt „Seitag. Seidenwaren Export und Import AG“. Kurze Zeit später nahm sich auch die Ehefrau das Leben. Im Falle des Kaufmannes Otto Pisk bot zunächst seine Verbindung in „Mischehe“ Schutz vor der Deportation. Als der inzwischen wegen eines erlittenen Schlaganfalls Pflegebedürftige 1942 von seiner Frau getrennt in eine „Gemeinschaftsunterkunft“ verlegt werden sollte, vergiftete sich Otto Pisk im Alter von 64 Jahren mit Veronal. „Ich bitte den behandelnden Arzt mich sterben zu lassen“, schrieb er in seinem Abschiedsbrief, „da ich unnütz auf der Welt bin. Meine liebe Frau bitte [ich] schonend zu verständigen.“ Nach dem Tod ihrer Eltern – die Mutter starb gleichfalls durch Suizid – und gescheiterter Flucht in das Exil nahm sich auch die geschiedene Wiesbadener Zahnärztin Therese Schwarz das Leben. Zuletzt zwangsweise in der Ostendstraße 18 gemeldet, entging sie durch Freitod der drohenden Deportation.
Gedenken nach 1945
Nach 1945 wurden auf dem Neuen Jüdischen Friedhof Eckenheimer Landstraße zunächst einfache Holztafeln für die Suizid-Opfer angebracht. Finanziert von der Hessischen Landesregierung setzte im Zuge der „Wiedergutmachung“ die Firma A. Horovitz ab 1957 Grabsteine aus Kunststein. Obgleich die Selbsttötung nach jüdischem Religionsgesetz verboten ist, versichert die hebräische Grabinschrift „Gestorben zu Ehren des göttlichen Namens“ die Würdigung der Toten als Opfer und trägt damit der extremen Verfolgungssituation während der NS-Zeit Rechnung.
Während auf dem Namenfries der Gedenkstätte Neuer Börneplatz nur die Personen aufgeführt sind, die sich zwischen 1933 und 1945 das Leben nahmen und an die auf dem Jüdischen Friedhof heute kein Grabstein erinnert, nennt die Datenbank Gedenkstätte Neuer Börneplatz des Jüdischen Museums alle bekannten „Freitod“-Opfer. Insgesamt handelt es sich um etwa 900 Personen (Stand: 2010).
Literatur::
Peter Cahn, Tagebuchaufzeichnungen und Briefe von Max L. Cahn und Tilly Cahn aus den Jahren 1933-1943, in: AFGK 65/1999, S. 182-221.
Adolf Diamant, Durch Freitod aus dem Leben geschiedene Frankfurter Juden 1938-1943, Frankfurt am Main 1983.
Jüdisches Museum Frankfurt (Hg.), „Und keiner hat für uns Kaddisch gesagt …“. Deportationen aus Frankfurt am Main 1941 bis 1945, Frankfurt am Main 2005, besonders der Katalogteil von Heike Drummer / Jutta Zwilling, S. 126-145.
An die zahlreichen jüdischen Menschen, die sich angesichts ihrer Verfolgung durch das NS-Regime selbst das Leben nahmen, erinnern auf dem Neuen jüdischen Friedhof in Frankfurt nach 1945 zunächst Holztafeln, ab 1957 Grabsteine. Insgesamt hat es in etwa 900 Fällen solche Freitode in Frankfurt gegeben.