Erinnerungen: Marlies Flesch-Thebesius als Konfirmandin im Kirchenkampf 1933-1935

Konfirmationsfeier von Marlies Flesch-Thebesius 1935

Pfarrer Martin Schmidt und Ehefrau in einer Aufnahme von ca. 1960

Zeitzeugenbericht von Marlies Flesch-Thebesius, deren Vater als Jude verfolgt wurde, über die Entwicklungen in den evangelischen Gemeinden Frankfurts aus der Anfangszeit des NS-Regimes. Geschildert werden aus der Sicht einer Konfirmandin die Auseinandersetzungen zwischen den der NS-Ideologie nahe stehenden Deutschen Christen und dem NS-kritischen Pfarrernotbund bzw. der Bekennenden Kirche.

 

Im Herbst 1933 war ich dreizehn Jahre alt und kam in den Konfirmandenunterricht. Martin Schmidt von der Dreikönigsgemeinde in Frankfurt war mein Pfarrer. Eigentlich war die Dreikönigsgemeinde für uns nicht zuständig; wir gehörten zur Lukasgemeinde, aber meine Eltern hielten sich zu Pfarrer Schmidt von Dreikönig, und wenn ich erkläre, wieso, bin ich schon mitten drin in der Nazizeit. Denn als mich meine Eltern bei Pfarrer Schmidt anmeldeten, war Hitler an der Macht und hatte auch in der evangelischen Kirche schon für Turbulenzen gesorgt. Gestärkt durch die Ideologie von der überragenden „arischen Rasse“ trat eine Gruppe auf, die forderte, das Alte Testament auszuschalten und das Neue Testament von allem, was sie als „jüdische Einflüsse“ bezeichnete, zu reinigen und aus der Knechtsgestalt Jesu einen germanischen Helden zu machen. Ähnliches hatte man schon früher gehört, doch wer sich zur Kirche bekannte, nahm es zunächst nicht ernst. Jetzt aber wurde es von höchster Stelle gefördert und fand reißenden Zuspruch. Es entstand eine neue Partei, die Glaubensbewegung „Deutsche Christen“, gegründet von einem Pfarrer, der Joachim Hossenfelder hieß und sich „Reichsleiter“ nennen ließ. Die Deutschen Christen waren keine politische Partei, sondern eine kirchliche, sie wurden aber von höchster Stelle gefördert und hatten großen politischen Einfluss. Unübersehbar wurde das bei den Kirchenwahlen, die am 23. Juli 1933 stattfanden und bei der die Deutschen Christen in fast allen Kirchengemeinden die Mehrheit bekamen, bei uns in Frankfurt 78 Prozent („Die Christliche Welt“, Sp. 767/8). Hitler persönlich hatte am Vorabend mit einer Radioansprache für die Deutschen Christen geworben.

 

Meine Eltern betrachteten die neue Bewegung mit Skepsis, auch deswegen, weil sie selbst durch Hitlers willkürliche Regierungsakte betroffen waren. Mein Vater rangierte unter die Gruppe der „Nichtarier“, sein eigener Vater, der 1882 in Frankfurt das Sozialamt zur Versorgung der Armen gegründet hatte, war zwar christlich getauft, aber seiner Abstammung nach Jude, und dieses „unauslöschliche Siegel“ haftete nach den Gesetzen der Nationalsozialisten, wenngleich mit gradueller Abschwächung, auch auf uns, seinen Nachkommen. Wir waren „nichtarisch“. Nun war mein Großvater bereits 1915 gestorben, stand also den neuen Gewalthabern nicht mehr zur Verfügung. Dafür waren aber seine Kinder schwer von den neuen Regelungen betroffen. Mein Vater war damals leitender Chirurg eines evangelischen Krankenhauses in Frankfurt, und unter dem neuen Regime bemühte sich die Verwaltung dieses Hauses mit allem Nachdruck, ihn zu verdrängen. Hier nun mischte sich Pfarrer Schmidt ein. Neben seinem Amt als Gemeindepfarrer war er auch zuständig für die Seelsorge dieses Krankenhauses und veranlasste den Verwaltungsdirektor zu einer Eingabe für meinen Vater beim Reichsinnenminister, der mit unterzeichnete. Das hatte zwar keine Wirkung, aber mein Vater war dankbar, dass wenigstens ein Mensch für ihn eintrat.

 

Die Schikanen im Krankenhaus jedoch wurden fortgesetzt und er wurde entlassen. Da unternahm Schmidt einen weiteren Versuch. Er fuhr zu dem Vorsitzenden der großen karitativen Organisation, zu der auch Vaters Klinik gehörte, und bat ihn, die Entlassung meines Vaters rückgängig zu machen. Der Vorsitzende war ordinierter Pfarrer der evangelischen Kirche und ein Amtsbruder von Martin Schmidt. Trotzdem zeigte er kein Verständnis. In diesem Fall könne er gar nichts tun, sagte er und fügte ergänzend hinzu: „Wen’s treffen soll, den trifft’s.“ An diesem Wort zeigt sich exemplarisch die Gespaltenheit, in der sich die evangelische Pfarrerschaft dieser Landeskirche zur Zeit Adolf Hitlers befand.

 

Zum Konfirmandenunterricht schenkte mir meine Mutter meine erste Bibel, in schwarzes Leder gebunden, mit Goldschnitt. Als Widmung schrieb sie auf die erste Seite den Spruch, den ich vor 13 Jahren bei meiner Taufe erhalten hatte: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein“ (1.Mose 13,2). Natürlich gefiel mir der Spruch. Als ich mich aber allmählich in den biblischen Büchern zurechtfand und sah, in welchem Zusammenhang dieser Taufspruch steht, erschrak ich. Er gilt nicht einem kleinen Kind zur Taufe, sondern ist ein Versprechen Gottes für den großen Abraham. Durch ihn, spricht Gott, „sollen gesegnet sein alle Geschlechter auf Erden.“ Das kann ich unmöglich auf mich beziehen. Soweit ich sehe, wird dieser Spruch heute nicht mehr so bedenkenlos bei Amtshandlungen der Kirche gebraucht wie damals, und auch das gehört vielleicht zu den Zeichen, die anzeigen, dass man inzwischen etwas behutsamer mit der Botschaft des Alten Testaments umgeht.

 

Im gleichen Monat, in dem unser Konfirmandenunterricht begann, fand ein wichtiges kirchenpolitisches Ereignis statt: Bekenntnistreue Pfarrer aus dem ganzen Reichsgebiet schlossen sich zusammen im Pfarrernotbund. Anlass war eine Synode, die die Kirche der Altpreußischen Union am 8. September in Berlin abgehalten hat und die als „braune Synode“ in die Geschichte eingegangen ist, weil fast alle, die daran teilnahmen, die braune SA-Uniform trugen. Soweit also war die Gleichschaltung der Kirche damals gediehen. Diese Synode beschloss den Arierparagraphen, der seit dem 7. April 1933 für die Staatsbeamten galt, auch für die Kirche der Union einzuführen, und andere Landeskirchen folgten alsbald.

 

Mein Pfarrer unterschrieb ohne Zögern die Selbstverpflichtung, die der Notbund an alle Pfarrer schickte; sie endete mit dem Satz: „In solcher Verpflichtung bezeuge ich, dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Raum der Kirche geschaffen ist.“ Karl Herbert, später Oberkirchenrat in der Landeskirche von Hessen und Nassau und stellvertretender Kirchenpräsident, war damals ein junger nassauischer Pfarrer; er erhielt die Selbstverpflichtung des Pfarrer-Notbunds erst am 5. Dezember 1933 zur Unterschrift, doch darin fehlte der entscheidende Punkt mit dem Arierparagraphen. „Wir haben das erst später nachgeholt“, schreibt Herbert in seinem Buch „Kirchenkampf, Historie oder bleibendes Erbe?“ (Frankfurt am Main 1985, Seite 82). Es gab also Kreise in der evangelischen Kirche, die zwar einen Zusammenschluss bekenntnistreuer Pfarrer bejahten, jedoch eine wie auch immer geartete Solidarität mit den Juden ablehnten.

 

Ich war damals noch jung und ahnungslos, aber ich meine mich zu erinnern, dass ich im Zusammenhang mit Pfarrer Schmidt das Wort „Notbund“ zum ersten Mal gehört habe. Ich merkte, die Sache war wichtig. Im Konfirmandenunterricht waren wir fünfzig Mädchen und Knaben; wir hatten getrennten Unterricht, jede Gruppe zweimal die Woche eineinhalb Jahre lang. Wir mussten viel auswendig lernen; das war üblich. Katechismus, Lieder, Bibelsprüche und Psalmen. Ich lerne leicht auswendig, und das meiste von damals kann ich noch heute. Vor allem ist mir erinnerlich, dass ich einen Text, den wir lernen mussten, überhaupt nicht verstand, den berühmten Christushymnus aus Philipper 2 mit seinen komplizierten Satzkonstruktionen. Die Rede ist von Christus in seiner doppelten Gestalt als Gott und als Mensch und lautete an der entscheidenden Stelle in der damals üblichen Luther-Übersetzung so: „… welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er’s nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an …“. Diesen Text lernten wir auswendig und ich sagte ihn auch her, fehlerlos, aber verstanden habe ich ihn nicht und wahrscheinlich ist er mir gerade deswegen so fest im Gedächtnis. Ob ich ihn allerdings heute verstehe, steht dahin.

 

Mit meinen Mit-Konfirmandinnen hatte ich wenig Kontakt. Nur eine ist mir in Erinnerung. Sie hieß Marlene Wegner und ihre Eltern waren geschieden. Sie bewohnte mit ihrem Vater eine große Wohnung im dritten Stock eines Hauses in der Gartenstraße. Einmal habe ich sie dort besucht. Wir saßen auf dem Balkon und redeten über die Prädestination; die war uns wichtig. Von Marlene habe ich nie wieder gehört, aber ich habe oft Gelegenheit durch die Gartenstraße zu gehen. Dann sehe ich hinauf zu dem Balkon und denke an unser Gespräch.

 

Die Schule, die ich besuchte, war ein privates Mädchengymnasium, das Anna-Schmidt-Schule heißt nach ihrer Gründerin und noch heute wächst, blüht und gedeiht. Schon meine Mutter hatte diese Schule besucht, und als ich sechs Jahre alt war, meinten meine Eltern nichts Besseres tun zu können als auch mich in diese Schule zu geben. Das hat sich bewährt, sogar in einer Weise, die sie damals nicht ahnten, denn unter Hitler hat sie wie kaum eine andere Schule ihre Schülerinnen jüdischer Abstammung geschützt. Unter uns war das kein Thema, von einigen meiner Klassengenossinnen wusste ich überhaupt nicht, dass sie „etwas Jüdisches“ an sich hatten. Aber gerade dieser Umstand führte dazu, dass auch meine Mitschülerinnen bei Pfarrern der Bekennenden Kirche im Konfirmandenunterricht waren. Die Bekennende Kirche, bald als BK abgekürzt, war im Frühsommer 1934 nach der Synode in Barmen, der so genannten „Reichsbekenntnissynode“, entstanden. Ich lernte damals sogar eine junge Frau kennen, die an dieser Synode teilgenommen hatte. Sie hieß Gretel Kramer und studierte Theologie, was damals für Frauen sehr ungewöhnlich war. Ihr Vater war Patient und lag in der Klinik meines Vaters, der sich große Sorgen um ihn machte, die teils seine Krankheit betrafen, teils aber sein künftiges Schicksal. Ich sehe Gretel Kramer noch, wie sie in unserm Garten stand, im Dirndl-Kleid, braun gebrannt, kräftig, fröhlich und begeistert von ihren Erlebnissen bei der Synode von Barmen. Von ihr habe ich zum ersten Mal den Namen Karl Barth gehört.

 

Der Sommer 1934 war zwar einerseits eine erhebende Zeit, weil sich als Folge von Barmen endlich evangelische Christen zu einer Form von Widerstand zusammenfanden. Andererseits war es aber auch eine schlimme Zeit, in der der Staat drastische Schritte unternahm, um eben diese Kirche der allgemeinen Gleichschaltung zu unterwerfen. Am 26. Juni 1934 ernannte der Preußische Kultusminister Bernhard Rust den Juristen August Jäger, einen Mann, der ausgerechnet aus unserer eigenen Landeskirche stammte, zum Staatskommissar mit dem Auftrag, die Angelegenheiten der evangelischen Kirche im Sinn der nationalsozialistischen Doktrin zu richten. Dass das nicht gelang, war tröstlich, doch die Art, mit der Jäger vorging, bewirkte, dass in kürzester Zeit mehr Porzellan zu Bruch ging, als man sich jemals hätte träumen lassen. Er erklärte alle gewählten Körperschaften für aufgelöst und kündigte an, sie durch Personen zu besetzen, die er selbst gewählt hatte. Dazu entwarf er eine Kirchenverfassung, die auf zwei Pfeilern ruhen sollte: dem Führerprinzip und dem Bekenntnis. Das Wort „Bekenntnis“ war verführerisch und manche mochten glauben, es sei das christliche gemeint, aber natürlich war es das Bekenntnis zu Hitler. Diese Verfassung blieb ein Torso, und Jäger trat drei Wochen nach seinem Amtsantritt wieder ab. Aber „nie zuvor oder danach gab es in so kurzer Zeit so viele Ein- und Absetzungen, so viele sich überkreuzende Maßregelungen, Verfügungen und Aktionen“. So ein Kommentar des Kirchenhistorikers Klaus Scholder (Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/Main, Wien, Berlin 1977, S. 453).

 

In meiner Konfirmandinnen-Perspektive machte sich August Jäger nur ein einziges Mal bemerkbar, nämlich in einem Gottesdienst bei der Verlesung des 91. Psalms: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt … der spricht zu dem Herrn: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe; denn er errettet dich vom Strick des Jägers, von der verderblichen Pestilenz.“ Als vom „Strick des Jägers“ die Rede war, ging ein verständnisvolles Lächeln durch die Gemeinde. Zum Lachen war uns nicht zumute. In der Ära des Staatskommissar Jäger wurden zwei Frankfurter Pfarrer ohne Angabe von Gründen strafversetzt, der eine innerhalb der Stadt Frankfurt, der andere nach Darmstadt, und der nach Darmstadt Versetzte war Rudolf Wintermann von der Weißfrauengemeinde, der Konfirmator einer meiner Mitschülerinnen. Ich kannte ihn, weil ich manchmal zu ihm in den Gottesdienst ging. Es gab viele Proteste und seine Anhänger organisierten eine Unterschriftenaktion. Auch ich, voller Empörung, bewaffnete mich mit einer Liste und ging von Haus zu Haus. Der mir zugewiesene Bezirk war die Langestraße, die die Nazis nach einem ihrer erschossenen Helden in Hans-Handwerk-Straße umbenannt hatten. Ich klingelte an den Wohnungen, präsentierte meine Liste und sagte immer das gleiche: „Sie sind doch auch dagegen, dass Pfarrer Wintermann strafversetzt wird. Bitte unterschreiben Sie doch mal auf dieser Liste.“ An die Reaktionen erinnere ich mich nicht, aber ich weiß, dass niemand grob oder abweisend war. Einem der von mir Besuchten brachte ich später noch jede Woche die Frankfurter Kirchenzeitung, ich glaube, sie hieß „Sonntagsgruß“. Wie ich gerade auf diesen Mann kam, weiß ich nicht. Ich hatte wohl das Gefühl, er sei einsam und könnte es brauchen.

 

Natürlich nützte unser Protest gar nichts. Wintermann musste nach Darmstadt. Als er seine letzte Predigt hielt, saß auch ich unter den Leidtragenden in der voll besetzten Weißfrauenkirche, die später im Krieg zerstört wurde. An den Text seiner Abschiedspredigt erinnere ich mich noch genau: „Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch“ (Psalm 68,20).

 

Im folgenden Winter fanden eine Reihe großer Veranstaltungen in der Paulskirche statt, dem Ort, wo vor fast einhundert Jahren die deutsche Nationalversammlung getagt hatte. Damals hatte die Paulskirche patriotische Reden gehört, die die Menschen aufrüttelten. Jetzt ließen sie sich bewegen von Reden, die Kirche und Glauben gegen die Macht gottloser Machthaber verteidigten. Die Versammlungen fanden Sonntagnachmittags statt. Die Redner waren führende Männer der Bekennenden Kirche, ich erinnere noch an Präses Koch aus Westfalen und an Martin Niemöller, den ich dort mehrmals gehört habe. Von ihm ging eine geradezu hypnotische Kraft aus. Einmal rief er mitten in seinem Vortrag laust aus: „Wo habt Ihr eure Rote Karte?!“ – „Hier!“ schrieen einige seiner Hörer, rissen sie aus der Brust und streckten sie ihm entgegen. Die Rote Karte war die Mitgliedskarte der Bekenntnisbewegung.

 

Bei diesen Versammlungen war die Paulskirche gefüllt bis auf den letzten Platz, manchmal mussten Parallelversammlungen organisiert werden, die Menschen kamen aus allen Richtungen, auch aus der weiteren Umgebung, und ich war dabei. Ich war vierzehn Jahre alt und kam aus eigenem Antrieb; dass mich meine Eltern jemals begleitet hätten, ist mir nicht erinnerlich. Dagegen kamen meine Mitschülerinnen, vor allem Amelis von Mettenheim, Gisela Neukirch und Leni Schepeler. Wir waren so begeistert, dass wir auch Fräulein Kalb ansteckten. Fräulein Kalb war unsere Religionslehrerin, eine Dame kurz vor der Pensionierung, grau, faltig und herzensgut. Sie gab Französisch und Erdkunde und, in diesen kritischen Zeiten, auch Religion. Was sie uns da lehrte, erinnere ich nicht, ich weiß nur, dass sie immer von Jerobeam und Rehabeam redete, das sind Könige aus dem Alten Testament; ich wusste nie, was sie mit denen wollte. Heute vermute ich, sie wollte uns, entgegen dem Zeitgeist, das Alte Testament nahe bringen, was ihr mit diesen Geschichten nicht recht gelang. Eins aber gelang ihr: Wir verstanden, dass sie auf unserer Seite war. So machten wir bei Fräulein Kalb auch kräftig Propaganda für die Paulskirchen-Veranstaltungen der BK, und Fräulein Kalb kam mit. Mag sein, dass sie in unserer Begeisterung auch ein Stück ihrer längst verflossenen Jugend erlebte.

 

Selbstverständlich waren meine Eltern Mitglieder der Bekennenden Kirche. Auch ich wäre gern Mitglied geworden, aber meine Eltern sagten, ich sei noch zu jung. Das sah ich nicht ein, aber da war nichts zu machen. Leni Schepeler, die nur ein halbes Jahr älter war als ich, war Mitglied. Überhaupt war sie den kirchlichen Ereignissen näher als ich, denn sie wurde von Pfarrer Veidt konfirmiert, und Veidt war der führende Mann in der Frankfurter BK und dies nicht nur, weil er Pfarrer der Paulskirche war. Er war ein glänzender Prediger, aber auch ein guter Organisator, dem wir die Vorträge der auswärtigen BK-Pfarrer in seiner Kirche verdankten. Er kannte sie alle persönlich, Niemöller, Asmussen, Koch, Alberts, Dibelius, dazu die temperamentvollen Rheinländer Beckmann, Immer und Held, denn er saß mit ihnen im Reichsbruderrat der BK und der Kirchenkonferenz in Berlin und hat auch an den großen BK-Synoden von Barmen, Dahlem, Oeynhausen und Augsburg teilgenommen. Das alles blieb nicht unbemerkt bei den Nazi-Behörden und ausgerechnet in den letzten Monaten vor unserer Konfirmation, die für März 1935 angesetzt war, folgten mehrere einschneidende Strafmaßnahmen gegen Veidt binnen kürzester Zeit, eine nach der anderen. Das begann mit einer Strafversetzung nach Pfungstadt an der Bergstraße, die er nicht beachtete. Er blieb, wo er war. Am 1. März wurde er zum zweiten Mal strafversetzt. Und gleichzeitig kam ein neuer Pfarrer an die Paulskirche, ohne Wissen des Kirchenvorstands, er hieß Irle und übernahm die sonntäglichen Gottesdienste, die bisher Veidt gehalten hatte.

 

Veidt mit seinen Getreuen war ausgeschaltet, aber er ließ sich nicht beirren und hielt seinen Gottesdienst vor großer Gemeinde in der Alten Nikolaikirche, die beinahe gegenüber der Paulskirche lag. Als er das gleiche Manöver am nächsten Sonntag wiederholen wollte, fand er die Alte Nikolaikirche verschlossen. Es gelang aber, durch eine Seitentür einzudringen, und wieder konnte Veidt Gottesdienst halten. Am folgenden Sonntag fand er das Schloss ausgewechselt, er konnte nicht rein. Also zog er mitsamt der ganzen Gemeinde in eine andere Kirche. Nun wechselte die Gestapo ihre Taktik. Veidt erhielt Redeverbot, nicht nur für Frankfurt, sondern für das Gebiet der gesamten Landeskirche Nassau-Hessen. Das war kurz vor der Konfirmation der Jugendlichen, zu denen auch meine Freundin Leni gehörte. Sie zitterte schon. Was würde aus ihrer Konfirmation werden? Doch Veidt ließ wissen: Ich werde konfirmieren, und es wird sogar ein richtiger Landesbischof dabei sein. Das war Dr. Kortheuer, ehemaliger Landesbischof der nassauischen Kirche mit Sitz in Wiesbaden. Er hatte sein Amt aufgegeben, als die Nazis ihre neue Ordnung schufen, und gehörte zu dem Freundeskreis um Karl Veidt. Und so verlief der Konfirmationsgottesdienst, sicher einer der merkwürdigsten, die es je gegeben hatte: Veidt und Kortheuer standen nebeneinander vor dem Altar, Kortheuer hielt die Predigt, verlas die Namen der Konfirmanden und die Konfirmationssprüche und sprach die Segensworte. Veidt legte die Hände auf und gab jedem Konfirmanden die Hand. Es war eine schweigende Konfirmation, aber gerade deswegen wurde sie unvergesslich. Leider war ich nicht dabei, aus welchem Grund, ist mir nicht erinnerlich. Vielleicht waren schon Ferien und ich war mit meinen Eltern verreist. Als mir Leni hinterher von ihrer stummen Konfirmation erzählte und an die Stelle kam, wo Veidt ihr die Hände auflegte, waren ihre Augen voll Tränen.

 

Meine eigene Konfirmation fand am 31. März 1935 statt. Es war ein wunderbarer Tag, der schönste in meinem Leben, wie ich in mein Tagebuch schrieb, aber so bedeutend wie die stumme Konfirmation konnte sie gar nicht sein. In unserer naiven Begeisterung wetteiferten wir damals mit den Strafmaßnahmen, die über „unsere“ Pfarrer verhängt wurden: Wintermann strafversetzt, Veidt Redeverbot, dagegen fiel mein Pfarrer Schmidt merklich ab, da er „nur“ eine Geldstrafe zahlen musste, 50 Mark, soviel ich weiß. Im Juli wurde Veidt gänzlich von seinem Dienst suspendiert, und erst im Herbst wurde diese Maßnahme aufgehoben. In dieser ganzen Zeit bekam er kein Geld von der Landeskirche; er lebte mit seiner Familie vom Pfarrer-Notbund und dem großen Kreis der Freunde und Anhänger, die ihm die Treue hielten. Der Frankfurter Kirchenkampf wäre nicht so verlaufen, wie ich ihn in meiner Zeit als Konfirmandin miterlebt habe, wenn nicht die Gemeinden zu ihren Pfarrern gehalten hätten. Darüber weiß ich wenig, und dass ich so wenig weiß, ist der beste Beweis dafür, dass es in dem Kreis, zu dem ich gehörte, im Frankfurter Kirchenkampf keine ideologischen Konflikte zwischen Pfarrer und Gemeinde gab. Irgendwo las ich später, dass Martin Schmidt zusammen mit seinem ganzen Kirchenvorstand in die Bekennende Kirche eingetreten ist. Und eines Tages sagte mir meine Mutter mit bewegter Stimme, Wilhelm Fresenius, Pfarrer der Katharinenkirche an der Hauptwache, habe Vaters Bruder, den Rechtsanwalt Dr. Jacob Flesch gebeten, Mitglied in seinem Kirchenvorstand zu werden. Meine Eltern verstanden das als Zeichen dafür, dass die Kirche ihren Gemeindemitgliedern jüdischer Abstammung die Treue hielt. In unserem Fall hat das auch gestimmt, aber aufs Ganze gesehen ist es eine Ausnahme. Es waren immer nur Einzelne, sowohl Theologen als Laien und unter diesen viele einzelne Frauen, die den Mitgliedern jüdischer Abstammung halfen. Die Kirche als ganze hat hier schmählich versagt und fängt erst jetzt, 60 Jahre danach, an, sich auf ihre Schuld zu besinnen.

Zeitzeugenbericht von Marlis Flesch-Thebesius, deren Vater als Jude verfolgt wurde, über die Entwicklungen in den evangelischen Gemeinden Frankfurts aus der Anfangszeit des NS-Regimes. Geschildert werden aus der Sicht einer Konfirmandin die Auseinandersetzungen zwischen den der NS-Ideologie nahe stehenden Deutschen Christen und dem NS-kritischen Pfarrernotbund bzw. der Bekennenden Kirche.



Autor/in: Marlies Flesch-Thebesius
erstellt am 01.01.2008
 

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