„Ich komme weg … ich halte mich stark“. Die Geschichte von Toni Pintus und ihrer Familie

Toni Pintus und ihr Sohn Werner

Toni und Dagobert Pintus mit ihrem Sohn Werner und Großmutter Lina

Lina Pintus und ihre Kinder Toni, Erna und Walter

Postkarte von Toni Pintus an ihre Verwandten, geschrieben vor ihrer Deportation in das Sammellager Drancy. Der verkehrt herum geschriebene Zusatz in der linken oberen Ecke lautet „Edwins Mutter ist bei mir.“

Einmal im Jahr lädt die Stadt Frankfurt am Main jüdische ehemalige Bürger als Geste des Respekts und der Annäherung ein, ihre Geburtsstadt zu besuchen, die sie in den dreißiger Jahren fluchtartig verlassen mussten. Neben dem von der Stadt angebotenen Programm besuchen die Gäste auch Frankfurter Schulen. Sie erzählen als Zeitzeugen über die Geschehnisse unter der Naziherrschaft oder führen Gespräche mit Lehrern und Historikern, um einen Beitrag zur Aufarbeitung der Verfolgung und Emigration sowie deren Auswirkungen auf die Nachkommen zu leisten.

 

Als Frank Meyer im Jahre 2001 in New York aufbricht, um seine Geburtsstadt Frankfurt am Main zu besuchen, ist es das erste Mal nach 62 Jahren, dass er wieder deutschen Boden betritt. 1939 hatte er Deutschland fluchtartig wegen der Naziverfolgungen verlassen. Seine Mutter hatte ihn damals zusammen mit seiner Schwester auf einem Kindertransport nach England in Sicherheit gebracht.
Lange hat Frank Meyer gezögert, nach Frankfurt zu fahren. Nie mehr wollte er eigentlich mit diesem Land etwas zu tun haben. Aber dann entschließt er sich doch, als Zeitzeuge in einer Frankfurter Schule im Westend mit Schülerinnen und Schülern über seine Tante Toni und das Schicksal seiner Familie während der Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen.

 

Im Gepäck hat er die Postkarte, die seine Tante Toni am 16. Juli 1942 an ihren Mann Bert und den Sohn Werner geschrieben hatte in das von deutschen Truppen noch nicht besetzte Südfrankreich: „Ich kann Euch leider nicht mehr schreiben, ich komme weg … ich halte mich stark. In Liebe Eure Toni und Mama“. Mit diesem Text, dem letzten Lebenszeichen seiner Tante Toni, will Frank Meyer die Frankfurter Schüler konfrontieren. Aus diesem Text auf einer Postkarte, die vermutlich auf dem Weg zum Sammellager Drancy (östlich von Paris) eingeworfen wurde, wird deutlich, dass Toni Pintus ahnte oder sogar wusste, dass sie auf dem Weg in ein Konzentrationslager war. Diese Ahnungen und Gewissheiten hatten ihre Vorgeschichte, die in Frankfurt stattfand.

 

 

 

 

Frank Meyer erzählt den Frankfurter Schülern die Geschichte seiner Familie
Die Geschwister Oppenheimer: das waren Toni, Walter und Erna. (Erna wurde später Franks Mutter). Sie verbrachten ihre Kindheit, zusammen mit ihrer früh verwitweten Mutter, im Oederweg. Sie besuchten Frankfurter Schulen, heirateten, blieben in Frankfurt oder zogen später zu ihren Ehepartnern nach Berlin bzw. Aachen.

 

Toni traf ihren zukünftigen Mann Dagobert Pintus auf dem Karneval in Köln und zog nach der Heirat im Jahr 1922 zu ihm nach Aachen, wo er bei der Firma Dr. Scholls Fußpflege als Vertreter angestellt war. Walter studierte in Berlin und arbeitete als Journalist. Er heiratete eine nicht-jüdische Frau und hatte drei Kinder, die er auf eine Quäker-Schule nach Holland schicken konnte. Er selbst galt später als „verschollen in Riga“.

 

Erna arbeitete bis zu ihrer Heirat mit einem Frankfurter Kaufmannssohn im Kaufhaus Schneider. „Sie war ein jüdisches, aber armes und nicht-gläubiges Mädchen“, erzählt ihr Sohn Frank. Ihr zukünftiger Mann Alfred Meyer stammte aus einer reichen und religiösen jüdischen Familie. Gegen den Widerstand seiner Eltern heirateten Erna Oppenheimer und Alfred Meyer im Jahr 1921. Nach der Heirat half Erna Meyer ihrem Mann Alfred in dem vornehmen Geschäft für Leinen & Wäsche der Fa. David & Meyer in der Goethestrasse 18. Was bescheiden Leinen und Wäsche hieß, sah in den Glasvitrinen elegant aus: Seidenkrawatten und feine Hemden, Accessoires jeglicher Art … aber nur bis zum 9. November 1938.

 

An diesem unheilvollen Tag beschließt Alfred Meyer, dass er heute den Laden nicht öffnen will. Seit dem von einem Juden verübten Anschlag auf den deutschen Gesandten Ernst vom Rath in Paris am 7. November herrscht eine gespenstische Ruhe. Man wartet stündlich auf eine Reaktion der Nationalsozialisten. Als der Tod des Gesandten gemeldet wird, muss man mit dem Schlimmsten rechnen. Trotzdem geht Alfred Meyer an diesem Tag ins Geschäft, weil er unruhig ist, und er nimmt seinen Sohn Frank mit. Der soll heute nicht in die Schule gehen, sondern lieber in der Nähe des Vaters bleiben. Als Vater und Sohn in die Goethestrasse einbiegen, stehen zwei Schutzpolizisten vor dem Schaufenster ihres Geschäftes und sehen tatenlos zu, was drinnen geschieht. Die Glasvitrinen werden gerade zerstört und die schönen Auslagen auf den Boden geworfen. Bevor man sie als Besitzer erkennt, wenden Alfred und Frank Meyer sich ab, denn sie werden nichts gegen die Verwüstungen ausrichten können, wenn schon die Staatsmacht in Gestalt der Schutzpolizisten keinen Finger rührt. Am Eschenheimer Tor kommen Vater und Sohn zur Ruhe. Frank wird von seinem Vater mit der Straßenbahn nach Hause geschickt in die Melemstrasse 8. Die Familie wartet vergeblich an diesem und den nächsten Tagen auf die Rückkehr des Vaters.

 

Bis endlich eine Nachricht kommt in Form eines vorgedruckten Schreibens: „Ich habe bis auf weiteres Postsperre, darf daher weder Briefe, Karten und Pakete empfangen noch absenden. Anfragen an die Kommandantur des Lagers sind verboten und verlängern das Schreibverbot.“ Unterschrift: Alfred Meyer, Block 50, Häftling 21652. Abgeschickt aus dem Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar.

 

Frank sollte seinen Vater niemals wieder sehen. Am 24. November, an Frank Meyers Geburtstag, erreichte ein Brief aus Buchenwald die zu Hause angespannt wartende Familie. Die Nachricht war ein Schock: Der Vater sei am 19. November 1938 an Darmverschlingung gestorben. „Irgendwelche besonderen Wünsche hat Ihr Mann nicht mehr geäußert“, schrieb die Kommandantur.

 

Zehn Jahre später, der Krieg ist schon drei Jahre zu Ende, brachte wieder einmal der Postbote schlechte Nachrichten, und zwar nach New York, wo Frank Meyer jetzt lebte. Diesmal über Tante Toni und ihre Familie, von deren Tod die Familie nichts gewusst hatte. Französische Partisanen, die Dagobert Pintus und seinen Sohn Werner eine Zeit lang versteckt halten konnten, hatten die New Yorker Verwandten ausfindig gemacht. Sie schickten ihnen ein kleines Päckchen mit Briefen und Karten und auch mit den letzten Grüßen von Toni Pintus an Mann und Sohn.

 

Frank Meyer erzählt den Schülern, dass er von nun an nichts mehr mit Deutschland und den Deutschen zu tun haben wollte. Nun aber sitzt er vor ihnen und berichtet vom schrecklichen Schicksal seiner Verwandten. 1937 war die Familie nach Paris emigriert. 1938 hört sie dort vom Tod ihres Schwagers Alfred Meyer. Sie erfahren auch von Tonis Schwester Erna, Franks Mutter, dass sie ihre Emigration vorbereitet. Während Erna Meyer einen Platz für ihre Kinder in einem englischen Internat erhält, wähnt sich Familie Pintus in Paris im Jahr 1939 noch in Sicherheit. Aber mit dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 ändert sich die Lage. Paris ist nun von den Deutschen besetzt. Toni betreut dort ihre mittlerweile 74-jährige Mutter, sie kann mit ihr nicht fliehen. Dagobert flüchtet mit seinem Sohn Werner in den unbesetzten Süden Frankreichs und findet Unterschlupf bei französischen Partisanen, jenen, die nach dem Krieg die letzten Lebenszeichen der Familie Pintus nach New York schicken.

 

Toni Pintus kümmert sich unermüdlich um eine Ausreisemöglichkeit in die USA. Aber ein Affidavit, wie es ihre Schwester und deren Kinder erhielten, kann sie für ihre alte Mutter nicht mehr bekommen. Die Briefe zwischen Paris und Südfrankreich werden immer verzweifelter. Toni klammert sich an vage Hoffnungen, aber ihre Lage in Paris wird immer aussichtsloser. Als Toni abgeholt und die Postkarte mit ihren Abschiedsworten abgeschickt wird, bleibt ihre Mutter Lina Oppenheimer in Paris zurück. Sie stirbt kurz darauf im Jahr 1943. Toni Pintus wird mit dem 12. Konvoi am 29. Juli 1942 vom Sammellager Drancy mit 999 anderen Juden nach Auschwitz deportiert: es sind 270 Männer und 730 Frauen, alle zwischen 36 und 54 Jahren alt. Zwei Drittel von ihnen werden zur Arbeit bestimmt, ein Drittel wird nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet.

 

Dagobert und Werner Pintus werden mit dem 32. Konvoi am 14. September 1942 mit 998 anderen Juden über Drancy nach Auschwitz deportiert. Nach zwei Tagen erreicht der Zug das Vernichtungslager. Nur 58 Männer und 49 Frauen werden zum Arbeiten bestimmt, die übrigen 893 Menschen sofort in den Gaskammern umgebracht. Es ist nicht bekannt, ob Toni, Dagobert und Werner Pintus sich vor ihrem Tod im Vernichtungslager noch einmal begegnet sind.

 

Frank Meyer hofft, mit dem persönlichen Bericht über das Schicksal seiner Verwandten, die Schülerinnen und Schüler zu erreichen und zu berühren. Seine Erwartungen werden bestätigt. Das Gespräch in der Frankfurter Schulklasse hat dazu beigetragen, dass die Verfolgung und Ermordung seiner Verwandten nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn die Postkarte mit den letzten Worten seiner Tante Toni Pintus wieder im Gepäck nach New York zurückgekehrt ist. In Zukunft werden es nur noch Dokumente sein, die die Sprache der Erinnerung bilden.

Einmal im Jahr lädt die Stadt Frankfurt am Main jüdische ehemalige Bürger als Geste des Respekts und der Annäherung ein, ihre Geburtsstadt zu besuchen, die sie in den dreißiger Jahren fluchtartig verlassen mussten. Neben dem von der Stadt angebotenen Programm besuchen die Gäste auch Frankfurter Schulen. Sie erzählen als Zeitzeugen über die Geschehnisse unter der Naziherrschaft oder führen Gespräche mit Lehrern und Historikern, um einen Beitrag zur Aufarbeitung der Verfolgung und Emigration sowie deren Auswirkungen auf die Nachkommen zu leisten.



Autor/in: Petra Bonavita
erstellt am 01.01.2007
 

Verwandte Begriffe

Drancy

Verwandte Orte

Auschwitz


Buchenwald

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