Traditionslinien des völkischen Antisemitismus

Der völkische Antisemitismus lässt sich bis weit in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen und war keineswegs auf politische Splittergruppen beschränkt. Aggressiver Antisemitismus wurde am Hof Kaiser Wilhelms II. ebenso lautstark vertreten wie in der hessischen Provinz.

 

Die ideologischen Traditionslinien des völkischen Antisemitismus und die Phantasmagorie einer „jüdischen Weltverschwörung“ reichten bekanntlich weit zurück in das 19. Jahrhundert. Verschwörungstheorien und Feindbilder überdauerten gleichwohl die Zeitläufte und wirken in manchen Köpfen bis heute. Bereits im deutschen Kaiserreich hatten erste Gruppierungen wie der „Reichshammerbund“ von Theodor Fritsch, die antisemitische Bauernbewegung des oberhessischen Bauernkönigs Otto Boeckel, die Christlich-Soziale Arbeiterpartei Adolph Stoeckers, die Deutsch-völkische Partei des späteren ersten hessischen NS-Ministerpräsidenten Ferdinand Werner und insbesondere der 1890/91 gegründete, völkisch-imperialistisch ausgerichtete „Alldeutsche Verband“ vehement gegen die vermeintliche jüdische Dominanz in Staat, Wirtschaft und Politik agitiert.

Mit der „Burgfriedenspolitik“ nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde die antisemitische Agitation der Alldeutschen und Deutschvölkischen zunächst eingeschränkt, mit dem Fortgang des Krieges erreichte sie jedoch eine gefährliche Dynamik. Die militärischen Niederlagen, Versorgungsschwierigkeiten und die zunehmende gesellschaftliche Erosion bildeten einen günstigen Nährboden für diffuse Vorurteile, latente Ängste und abstruse Verschwörungstheorien. Bereits 1916 konnte die Deutschvölkische Partei beim Preußischen Kriegsministerium eine Kommission zur statistischen Erfassung „aller jüdischen Militärpersonen an der Front, in der Etappe und im Hinterland“ erwirken. Diese so genannte „Judenzählung“ vergiftete nicht nur die Atmosphäre innerhalb der Truppe, sondern schürte auch die Vorurteile gegen angebliche „jüdische Schieber“ und „Großspekulanten“ an der „Heimatfront“. Unter dieses Verdikt fielen auch die exponierten jüdischen Unternehmer und Bankiers in der Kriegswirtschaft wie Albert Ballin, Max M. Warburg – um nur einige zu nennen - und vor allem Walther Rathenau, der erste Leiter der Kriegsrohstoffabteilung und spätere Außenminister der Weimarer Republik. Sein von der völkischen Propaganda immer wieder zitierter, auf die internationale Verflechtung des Kapitalismus bezogener Ausspruch von 1909, es seien „Dreihundert Männer, (...) die [die] wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents“ leiteten, (Sabrow, S. 75) sollte bald eine ungeahnte, nicht beabsichtigte Dimension erlangen: Mit der sich abzeichnenden Kriegsniederlage geriet Rathenau zur negativen Symbolfigur der Deutschvölkischen und wurde zum Verantwortlichen für die militärische Niederlage stigmatisiert. Derartige gebetsmühlenartig vorgetragene Propagandaformeln korrespondierten schließlich aufs Trefflichste mit dem Schreckgespenst einer großen jüdischen Weltverschwörung, deren Existenz durch die berüchtigten „Protokolle der Weisen von Zion“ bewiesen schien.

Bei den „Protokollen der Weisen von Zion“ handelt es sich um eine der erfolgreichsten politischen Fälschungen der Geschichte. Auf einer fiktiven Geheimkonferenz während des ersten Zionistenkongresses in Basel 1897 habe eine Reihe jüdischer Führer – die „Weisen“ – einen Beschluss gefasst, die jüdische Weltherrschaft durch Gewalt, Betrug und List zu erringen. Die im Auftrag des zaristischen Geheimdienstes erstellten „Protokolle“ gelangten 1919/20 auch nach Deutschland. Vor allem der 1919 vom "Alldeutschen Verband" gegründete „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ (DSTB), einer der Keimzellen der späteren NSDAP, stellte die „Protokolle“ in den Mittelpunkt seiner Propaganda, aber auch die „Thule-Gesellschaft“, die frühe NSDAP und andere geheime völkische Bünde verbreiteten die Lügen dieses Machwerkes in ihrem Kampf gegen die so genannte „Brechung der Zinsknechtschaft“ und die angebliche „Verjudung des Bank- und Börsenwesens in Deutschland“, die Schuld am „wirtschaftlichen und seelischen Zusammenbruch des deutschen Volkes“ sei (Lohalm, S. 140). Obwohl schon kurz nach ihrem Erscheinen bekannt wurde, dass es sich um eine Fälschung handelte, erwiesen sich „Protokolle“ als einer der völkischen Bestseller der jungen Republik. Für viele der von sozialem Abstieg und gesellschaftlicher Deklassierung bedrohten Angehörigen der alten kaiserlichen Eliten in Staat, Gesellschaft und Militär und für den von der Wirtschaftskrise besonders betroffenen Mittelstand bot dieses Machwerk eine einfache Erklärung für die Kriegsniederlage und die Inflation. Der ehemalige deutsche Kaiser im holländischen Exil zählte ebenso zu den treuen Anhängern der „Protokolle“ wie sein ehemaliger Feldherr Erich Ludendorff und auch ein kleiner österreichischer Gefreiter namens Adolf Hitler.

Es würde zu weit führen, die ungeheuer virulente antisemitische Propaganda in den ersten Jahren der Weimarer Republik darzustellen. Festzuhalten bleibt, dass die Protokolle zu den wirkungsmächtigsten Agitationsschriften zählten. Ihre an niederste Instinkte, alte Vorurteile und unterschwellige Ängste appellierende Stimmungsmache erzeugte nicht nur eine latente Pogromstimmung, sondern bereitete auch den Boden für die zahlreichen gegenrevolutionären Umsturzversuche und stand in engstem Zusammenhang mit einer Mordserie, die in den Jahren 1921 und 1922 die Grundfesten der jungen Demokratie erschütterte sollte.
Aus den Exzesstaten in den ersten politisch unruhigen Nachkriegsjahren entwickelte sich bald eine unheimliche Mordserie, die ihren Höhepunkt mit der Ermordung von Walther Rathenau am 24. Juni 1922 und dem Anschlag auf den jüdischen Publizisten Maximilian Harden (Die Zukunft) am 3. Juli 1922 erreichte. Hinter den scheinbar wahllosen Anschlägen stand Methode: durch die Attentatsserie auf demokratische Politiker sollte ein Aufstand der Linken provoziert werden, um anschließend mit Hilfe der Reichswehr die Regierung zu stürzen und eine völkische Diktatur zu errichten.

Dahinter stand der aus der Brigade Ehrhardt hervorgegangene Geheimbund „Organisation Consul“ (OC), der in Frankfurt seit 1920 eine seiner Hochburgen hatte. Das Ziel der Organisation war die „Bekämpfung alles anti- und internationalen, des Judentums, der Sozialdemokratie und der linksradikalen Parteien“, sowie die „Bekämpfung der antinationalen Weimarer Verfassung“ mittels der „Sammlung von entschlossenen nationalen Männern zu dem Zweck: (...) durch Einsetzung einer nationalen Regierung die Wiederkehr der heutigen Verhältnisse unmöglich zu machen.“ (aus der Satzung der OC, Bundesarchiv Nachlass Luetgebrune, NL 150, Nr. 113, Bl. 1). Ihren Feind sah "Organisation Consul" „nicht nur im Kommunisten, sondern auch in den internationalen Persönlichkeiten, den Vaterlandslosen, Ehrgeizlingen und Geschäftemachern, den Würdelosen und Verrätern". Diese zu beseitigen, hielten sie für ihre "vaterländische Pflicht“, wie der für diese Taten nie zur Rechenschaft gezogene Kopf der "Organisation Consul", Kapitän Hermann Ehrhardt, nach dem Zweiten Weltkrieg öffentlich in der Zeitschrift "Kristall" (Nr. 5/163) erklärte.
Ende 1920 in München mit Unterstützung der Reichswehr, der Industrie und bayerischer Regierungskreise gegründet, hatte sich die OC in den Folgemonaten wie ein Spinnennetz über das ganze Reich ausgebreitet und Anschluss an nahezu jede völkische Vereinigung gefunden, vom „Jungdeutschen Orden“ bis hin zur noch kleinen NSDAP. Enge Kontakte bestanden zu Heinrich Claß und Ludendorff. Ehrhardts zeitweiser Stellvertreter, der spätere NS-Ministerpräsident von Sachsen und für die Durchführung des Holocaust mitverantwortliche NS-Gesandte in Rumänien, Manfred von Killinger, und nahezu alle Mitglieder der Mord- und Terrorkommandos der „Organisation Consul" gehörten dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund und der NSDAP an. Nicht nur die Rathenau-Mörder töteten ihr Opfer bekanntlich unter dem Eindruck der „Protokolle“, sondern auch der Mord an Erzberger und der Attentatsversuch auf Philipp Scheidemann galten den mutmaßlichen Werkzeugen der „jüdisch-bolschewistisch-freimaurerischen Weltverschwörung“. Die Provokationsstrategie lief ins Leere.

Die nach einer Verhaftungswelle kurzfristig geschwächte, nach einigen Monaten aber reorganisierte OC firmierte ganz offiziell unter dem ins bayerische Vereinsregister eingetragenen „Bund Wiking e.V.“. Claß konnte das in den Ländern Thüringen, Hamburg und Schaumburg-Lippe erlassene Verbot gegen den "Alldeutschen Verband" durch eine Beschwerde vor dem Staatsgerichtshof wieder aufheben lassen.

Unverändert verfolgten sie in den kommenden Monaten ihr altes Ziel: den Sturz der Republik und die Errichtung der völkischen Diktatur. Im Herbst 1923 schien endlich der geeignete Moment für den geplanten „Marsch auf Berlin“ gekommen zu sein. Insbesondere in Bayern, aber auch rund um Berlin und in einigen Gebieten Westdeutschlands liefen unter dem Schutz der Reichswehr die Aufmarschvorbereitungen der Verschwörer an. Waren die militärischen Planungen vergleichsweise gut ausgearbeitet, so kann von einer völligen politischen Programmlosigkeit der Majorität der beteiligten Führer – Gustav Ritter von Kahr, Claß, Ludendorff, Hitler, Ehrhardt und anderen - gesprochen werden. Es gab bis zum Sommer 1923 kein gemeinsames Regierungsprogramm. Wie einer von Ehrhardts jungen Offizieren, der westdeutsche Wiking- und SA-Führer Friedrich Wilhelm Heinz aus Frankfurt, später konstatierte, hatte bis zum Sommer 1923 „keine der Gruppen, die zum `Marsch auf Berlin´ rüsteten, (...) über den Augenblick hinausgedacht, in welchem sie die Macht in Händen halten würden“ (in: Die Nation greift an, Berlin 1933, S. 217).

 

Literatur

 

Hadassa ben Itto, Die Protokolle der Weisen von Zion. Anatomie einer Fälschung. Berlin 1998

Harold J. Gordon, Hitlerputsch 1934. Machtkampf in Bayern 1923-1924, München 1978

Walther Hofer (Hg.) Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1957

Hans Hubert Hofmann, Der Hitlerputsch: Krisenjahre deutscher Geschichte 1920-1924, München 1961

Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus, Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919-1923, Hamburg 1970

Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000

Martin Sabrow, Der Rathenaumord: Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994

 

Der völkische Antisemitismus lässt sich bis weit in das 19. Jahrhundert zurückverfolgen und war keineswegs auf politische Splittergruppen beschränkt. Aggressiver Antisemitismus wurde am Hof Kaiser Wilhelms II. ebenso lautstark vertreten wie in der hessischen Provinz.



Autor/in: Susanne Meinl
erstellt am 01.01.2007
 
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