Diskriminierung und Verfolgung der „Swing-Jugend“ als Kampf gegen die Jugendverwahrlosung

Das Schumann-Theater am Hauptbahnhof, Fotografie um 1938

Das Orchester Arne Hülphers, Bildpostkarte um 1942

Porträt Charlotte D., Fotografie um 1942

Porträt Heinz R., Fotografie um 1942

Frankfurter Mittelschüler auf dem Weg zu einer Klassenfete im Lorsbachtal im Taunus, die emporgehobene Hand mit gestrecktem Zeigefinger bei Alexander L. (links) ist das Swing-Zeichen, Fotografie 1942

So genannte Führerinformation, die seitens der Reichsministerien zur speziellen Unterrichtung des Führers gedruckt wurden, 1942

Im Zweiten Weltkrieg intensivieren Gestapo, Hitlerjugend und städtische Behörden die Verfolgung der von ihnen als „Swing-Jugend“ bezeichneten jugendlichen Subkultur. Tagelange Verhöre und Inhaftierung bis hin zu Einlieferungen Jugendlicher in speziell für Jugendliche eingerichtete Konzentrationslager dienen offiziell dem Kampf gegen Jugendverwahrlosung.

 

Die Swing-Jugend nutzte die Großstadt und ihr Nachtleben mit ihrem weltläufigen Unterhaltungsangebot wie dem Schumann-Theater am Hauptbahnhof mit Varieté, Bar und Café, in dem bis 1943 ausländische Spitzenorchester aus neutralen oder besetzten Ländern gastierten. Zum Erscheinungsbild gehörte modische Eleganz mit unverzichtbaren Merkmalen: weiße Seidenschals, gemusterte Anzüge, ausgestellte Hosen, kürzere Röcke, ein heller, möglichst weißer Staubmantel, lange Haare, Dauerwelle, auffälliges Schminken, auffällige Hüte. Für Jungen war der englische Gentleman Orientierungsgröße. Die Zugehörigkeit zur Szene war eher kostspielig: modische Extras, regelmäßige Café- und Kinobesuche, eigene Plattensammlungen, der Besitz von Koffergrammophonen, Parties. Jugendliche mieteten Wohnungen als Treffpunkte an oder trafen sich in Bootshäusern. Notwendig war Freizeit. Vor allem Oberschüler, ältere Mittelschulschüler und Schülerinnen aus zumeist gut situierten bürgerlichen Familien beherrschten die Szene.
 

Tondokument: Erinnerung Hans-Ludwig W. (*1926), an das Schumann-Café, „heiße“ Musik und Gestapo (1985); © Historisches Museum
 

Das rigide Jugendschutzgesetz gestand erst Achtzehnjährigen die Freizügigkeit zu, die das Ausleben der Szene ermöglichte. Zu den Phänomenen der Szene gehörte daher, dass sich alle Jüngeren durch Kleidung und Auftreten bemühten, älter zu erscheinen als sie in Wahrheit waren. Viele hatten Szenenamen, Johnny war sehr beliebt. Staat und Regime deuteten Ablehnung der Hitlerjugend, Anglophilie oder sexuelle Libertinität als Merkmale der Verwahrlosung.

Die „Swing-Jugend“ war Gegenstand der Besprechungen beim Oberbürgermeister. Die städtische Jugendfürsorge sah besonders die jungen Mädchen bedroht. Sie verwies immer wieder auf die sexuelle Freizügigkeit der Szene, zeigte sich entsetzt über die Erfahrungen sechzehnjähriger Mädchen, die ihrerseits in Verhören kräftig auftischten, um die in ihren Augen altmodischen und lebensfeindlichen Fürsorgerinnen zu provozieren. Das zweite Problem, das immer wieder beklagt wurde, war die ausbleibende Unterstützung durch „betroffene“ Eltern. Bezeichnenderweise werden oft Ärzte oder Rechtsanwälte genannt, die sich achselzuckend oder provokativ unverständig desinteressiert zeigten, wenn die Fürsorge die „Verwahrlosung“ der Töchter zur Sprache bringen wollte. Ihr Interesse konzentrierte sich darauf, dass die Kinder den Bogen nicht überspannten und justiziable Konflikte provozierten. „Liberale“ Eltern hatten Verständnis dafür, dass die Kinder die staatlich sanktionierten Konventionen nicht widerspruchslos übernahmen. In der weiteren Bevölkerung grassierte der Spitzname „Stenz“ für die Jungen, in Frankfurt am Main die Bezeichnung für Zuhälter.

Die HJ ergriff disziplinarische Maßnahmen gegen Jugendliche, die der HJ-Streifendienst vor Kinos oder Tanzcafés gestellt hatte. Die Erfolge der „erzieherischen Maßnahmen“ der HJ waren gering, weil die Mitgliedschaft bereits als notwendiges Übel empfunden wurde. Die Gestapo richtete mit Kriegsbeginn ein spezielles Referat für die Verfolgung ein. Nachts auf der Straße „erwischte“ Jugendliche wurden am nächsten Morgen zum Verhör bestellt, erkennungsdienstlich behandelt, das Schneiden der Haare verlangt und durchgesetzt und für das nächste Mal mit KZ gedroht. Die Fragen des Vernehmers galten sexuellen Kontakten und dem Organisationsgrad der Szene. Rollkommandos schnitten Jugendlichen auf der Straße Bahnen in die Frisur. Wohnungsdurchsuchungen galten verdächtigen Schallplatten.
Zwischen 1942 und Juli 1944 ließ das Fürsorgeamt dreiundzwanzig Frankfurter Jugendliche in ein Jugend-KZ einliefern. Ab 1943 wurde mit der Alternative Meldung zur Wehrmacht oder KZ gedroht.
Die Szene erwies sich gegenüber den Maßnahmen von Gestapo, Hitlerjugend und städtischer Fürsorge resistent. Ihr Ende kam durch den totalen Krieg: Zerstörungen des Bombenkriegs und Schließung der Treffpunkte, die sechzehnjährigen Oberschüler wurden Flakhelfer, Achtzehnjährige Soldaten.

 

Erinnerung Emil Mangelsdorf (*1925), an Gestapoverhöre und Untersuchungshaft (1983):

 

„Die HJ-Streifen kamen regelmäßig. Der zuständige Gestapobeamte hieß Baldauf. Auch wenn wir ein Lokal oder Café betraten, hielten wir erst einmal Ausschau. Baldauf agierte auch als Rausschmeißer. Er kannte die Szene. Mich zitierte er insgesamt fünfmal wegen langer Haare in die Lindenstraße. Zum Ritual gehörte, daß sich Baldauf erst mit der Zeit zufrieden gab, also wieder zum Friseur, am nächsten Morgen wieder in die Lindenstraße. Zum Ritual gehörte der Schlag ins Gesicht, weil ich in der Tür des Verhörzimmers ‚Guten Morgen!‘ sagte. Schlag ins Gesicht und Gebrüll: ‚Hier heißt das Heil Hitler!!!‘ oder auch nur ‚Rauuss!‘ Die Fragen bei den Verhören waren stets die gleichen, wer zum Harlem-Club gehöre und wer von den Mädchen mit Jungen verkehre. An diesem Punkt habe ich nie kapiert, was die wollten ... Im April 1942 wurde ich zur Gestapo zitiert und aufgefordert auszupacken. Ich konnte mir keinen Reim machen, wußte nicht, auf was ich die Aufforderung beziehen konnte. Nach einigen Stunden im Gestapokeller brachten die mich in die Hammelsgasse, in Untersuchungshaft. Dort erfuhr ich dann den Grund. Mein Freund Sch. hatte den Einberufungsbefehl zum Wehrertüchtigungslager erhalten. In Gegenwart seiner Mutter reagierte ich auf die Nachricht mit ‚Was willst du denn bei dem Haufen?!‘
Die Mutter, eh schon in Sorge wegen der Zugehörigkeit zur Szene und den Kontakten mit der Gestapo, beschloß den Sohn vorsorglich zu schützen und hatte mich verpetzt. Das Vorsorgliche bestand darin, daß Sch., falls er dumme Sachen machen sollte, als Verführter hingestellt werden konnte, wenigstens in den Augen seiner Mutter. Der Vorwurf gegen mich lautete also auf Sabotage oder Wehrkraftzersetzung. Da ich schon einige Male aufgefallen war, nutzte die Gestapo die Chance, mich ranzukriegen. Ich verbrachte 20 Tage in der Hammelsgasse. Einen Richter bekam ich nicht zu Gesicht. Meine Mutter, die Baldauf anrief, bekam zu hören: ,Machen Sie sich keine Sorge, ihr Sohn lebt noch!‘ Nachts hörte ich eine Frau furchtbar schreien. Ich hörte den Satz: ‚Der kommt ins KZ!‘ Bezog er sich auf mich? Als ich wegen der Amnestie zu Führers Geburtstag wieder raus kam, hatte Mutter eineTorte gebacken. Es war wie Geburtstag...“

 

Erinnerung Alexander L. (*1924), an die Szene, an „heiße“ Musik und die Bedrohung durch Gestapo und Hitlerjugend (1983):

 

„Der wichtigste Treffpunkt der Szene war die Rokokodiele in der heutigen Henningerpassage. Dort standen ein Klavier und ein Schlagzeug, die von jedem benutzt werden konnten. Offiziell war der Eintritt erst ab 18 Jahren erlaubt. Tanzcafés in denen interessante Orchester und Ensembles auftraten oder heiße Scheiben aufgelegt wurden, waren das Regina, das Café Hauptwache, das Café Wien, alle an der Hauptwache, oder das Café Sanssouci am Eschenheimer Turm. Vorne an stand auch das Schumanntheater am Hauptbahnhof mit Café Bar und Varieté. Im Sommer nahmen wir die Koffergrammophone mit in das Schwimmbad. An manchen Tagen spielten über 50 Grammophone im Brentanobad. Beliebt waren Paddelbootpartien mit Grammophon und Freundin. Wenn die ersten Takte de Harlem Swing auf der Straße gepfiffen wurde und jemand pfiff zurück, war sicher, daß ein Freund der heißen Musik um die Ecke kam ... Auch in den Stadtteilen gab es zahlreiche Treffpunkte, wo die Musik, die wir mochten, zu höre war. Im Moltkecafé in der heutigen Hamburge Allee, deren Besitzerin wir Mutti nannten, stand neben dem Grammophon ein großes leistungsstarkes Radio, das ausländische Sende sehr gut empfing. In den Praunheimer Lichtspielen, der sogenannten Flohkiste arbeitet mein Freund Heinz R. als Vorführer. In den Pausen legte er heiße Scheiben auf. Seinen EItern gehörte ein Obstgeschäft in der Nähe des Schumanntheaters. Dort kauften die Musiker, die in der Bar oder im Café spielten, ihr Obst. Heinz besaß große Kenntnisse in der internationalen Musikszene und hatte außerdem gute Beziehungen zum Musikhaus Tappert. Bis zun Frankreichfeldzug war Radio Luxemburg ein ganz toller Sender. Sein Ende war durch die Besetzung Frankreichs verschmerzbar. Jetzt konnten die heißen Scheiben durch Fronturlaube direkt mitgebracht werden. Meine Jazzbegeisterung stand weit über de Identifikation mit der HJ, kam auch noch vor meinen sportlichen Interessen. Im Schwimmbad kontrollierten HJ-Streifen. Bei Platten mit deutschen Labels, die Foxtrott versprachen waren sie mit ihrem Latein am Ende, da Foxtrott als deutscher Art angemessene Musik galt. Zu Beginn des Krieges hatte ich eine acht Jahre ältere Freundin. Abgesehen davon, daß unsere Mode uns älter machte und ich überhaupt älter aussah, bot dies viel Sicherheit, in Bars, Cafés oder vor Kinos nicht aufzufallen. Unsere Mode und die Begeisterung für den Swing war bewußte Opposition gegen Erwachsenenwelt und Normen der HJ. Politische Bedeutung hatte sie indes nicht. Ich hatte auch nie Angst vor der Gestapo oder dem HJ-Streifendienst. Bei einem der ersten, noch relativ harmlosen Luftangriffe auf Frankfurt ging ich nicht in den Keller, sondern schaute am offenen Fenster zu. Gleichzeitig hörte ich in einer Lautstärke Musik, die für den gesamten Wohnblock reichte. Ich hörte fast täglich Musikprogramme ausländischer Sender, ohne daß ich jemals denunziert worden wäre. Mein Stolz auf die militärischen Erfolge der Wehrmacht, ein durchaus nationaler Stolz, geriet in meinem Kopf auch nie in Gegensatz zu der Vorliebe für amerikanische Musik oder anglo-amerikanische Leitbilder. Wir befleißigten uns einer gentlemenhaften Distinguiertheit. Beleidigend war die Bezeichnung Stenz. Meine Mutter erhielt eines Tages einen anonymen Anruf, sie zöge einen Stenz auf. Weitaus schwieriger als für die Jungen war die Situation für die Mädchen der Szene. Sie provozierten durch eine Schminktechnik, die ihnen ein älteres, verlebt wirkendes Aussehen gab. Der Krieg wirkte sich für mich am schlimmsten in der nächtlichen Verdunkelung aus. Damit war der Großstadtflair dahin. Schlager wie ,Wenn die Lichter wieder scheinen‘ oder ‚Wenn es draußen dunkel wird‘ empfand ich als oppositionelle Lieder.“

 

Im Zweiten Weltkrieg intensivieren Gestapo, Hitlerjugend und städtische Behörden die Verfolgung der von ihnen als „Swing-Jugend“ bezeichneten jugendlichen Subkultur. Tagelange Verhöre und Inhaftierung bis hin zu Einlieferungen Jugendlicher in speziell für Jugendliche eingerichtete Konzentrationslager dienen offiziell dem Kampf gegen Jugendverwahrlosung.



Autor/in: Jürgen Steen
erstellt am 01.01.2003
 

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