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Der Entwurf einer nationalsozialistischen „Notverfassung“ aus dem Putschjahr 1923

Französische Truppen beziehen am 6. April 1920 Stellung an der Hauptwache. In der Bildmitte das Schillerdenkmal, das während des Zweiten Weltkriegs eingeschmolzen wurde.

1926 fand die Polizei bei einer Hausdurchsuchung den Entwurf einer „Notverfassung“, die 1923 nach dem erfolgreichen Hitler-Ludendorff-Putsch in München hätte in Kraft treten sollen. Sie sah nicht nur die Auflösung der Republik, Abschaffung aller demokratischen Rechte und Einführung einer Diktatur vor, sondern auch die Enteignung der Juden und ihre Einweisung in Sammellager. Beteiligt waren an der Ausformulierung dieser Notverordnung auch junge Frankfurter NS-Aktivisten.

Der Kapp-Putsch vom März 1920 und die darauf folgende kurzzeitige Besetzung Frankfurts durch französische Truppen verschärften die politischen Spannungen auf das Äußerste. An der Hauptwache ließ am 7. April 1920 ein mit der Situation völlig überforderter Unterleutnant seine Abteilung, darunter einige farbige Soldaten, mit aufgepflanztem Bajonett und Warnschüssen gegen eine neugierige Zuschauermenge aufmarschieren. Die Situation eskalierte auch an anderen Stellen in der Stadt. Letztlich waren 10 Tote und mehr als 20 Verletzte zu beklagen. Das als Demütigung empfundene Vorgehen der französischen Besatzung, suchten nationale und rechtsgerichtete Gruppierungen auszunutzen. Durch seine verkehrsgünstige Lage wurde Frankfurt Durchgangsstation und Tummelplatz des rechtsradikalen Terrorismus.

Friedrich Wilhelm Heinz war von 1920 bis 1925 hessischer Organisation Consul- und Wiking-Führer. 1922/23 in die NSDAP eingetreten, wurde er im Mai 1923 von Hermann Göring als SA-Führer Westdeutschlands eingesetzt. Er war Organisator der „Schwarzen Reichswehr“ in Hessen und zugleich Leiter der Frankfurter Dependance des „Deutschen Übersee-Dienstes“, einem illegalen Geheimdienst der Reichswehr. Heinz wurde 1929 als Kombattant von Otto Strasser aus der NSDAP ausgeschlossen und war im Zweiten Weltkrieg als Offizier des Amtes Ausland/Abwehr an den Attentatsplänen gegen Hitler beteiligt. Das von Claß mitverfasste Programm einer militärischen Wirtschaftsdiktatur erwies sich als Konzentrat alldeutscher, antiliberaler und völkischer Ideologeme. Ihre radikalen und menschenverachtenden Dekrete waren nicht nur das Ergebnis des erbitterten nationalistischen und antisemitischen Klimas des Krisenjahres 1923, sondern gewissermaßen auch ein Gegenprogramm zu den taktischen Konzeptionen der „Weisen von Zion“. Dies wird besonders in den wirtschaftspolitischen Bestimmungen des Dokuments deutlich: Bankensperre, Schließung der Börse, mögliche Beschlagnahme „jüdischen Vermögens“, Unterbindung von Grundstücksgeschäften, Einziehung des Vermögens derjenigen, die „während des Krieges oder der Zeit des Umsturzes aus der Not des deutschen Volkes Gewinn gezogen“ hätten, ganz wie es dem radikal-antisemitischen Konsens entsprach.

Und nicht nur deshalb interpretierte beispielsweise der Historiker Harold J. Gordon, die „Notverfassung“ als ideologische und juristische Weichenstellung für den späteren Völkermord und eine Etappe auf dem Weg nach „Dachau und Auschwitz“. (Gordon, S. 142) Denn beabsichtigt war außerdem, „alle in Deutschland aufhältlichen Angehörigen des jüdischen Volkstums männlichen und weiblichen Geschlechts jeden Alters, Standes und Berufs“ in Sammellager zu überführen. Wer sich der Überführung entziehen oder aus dem Sammellager flüchten würde, sollte ebenso mit dem Tode bestraft werden wie derjenige, der ihm dabei Hilfestellung leiste oder in mündlichem oder schriftlichem Verkehr mit dem „Überführten“ stehe.

Diese von Claß zur Verfügung gestellte Notverfassung zirkulierte nun in den Monaten vor dem Münchner Putschversuch in den jeweiligen Verbänden der großen konterrevolutionären Liga und wurde mehrfacher Überarbeitungen unterworfen. Da der politische Leiter der hessischen Wehrverbände, der Gießener Jurastudent und AStA-Vorsitzende Jakob Friedrich Zimmer, in Übereinstimmung mit Heinz Teile dieser Notverfassung für nicht ausführbar hielt, erstellte er mit Friedrich Wilhelm Heinz und dem Korpsstudenten Hermann Sievers – rühriger Aktivist des DSTB in Hessen, Freikorpskämpfer, OC-Veteran und späterer „Blutordensträger“ der NSDAP - eine den Zielen der Ehrhardt-Gruppe entsprechende Version (F. W. Heinz, Sprengstoff, Berlin 1939, S. 240). Die überarbeitete „Notverfassung“ ging daraufhin an die Bundesleitung des „Wiking“ nach München zurück und wurde dort wohl in dieser Form akzeptiert. Diese Version fand sich, ergänzt um eine „Standgerichtsordnung“, am 9. November 1923 bei dem an der Feldherrnhalle erschossenen Rat am Bayerischen Oberlandesgericht und Nationalsozialisten Theodor von der Pfordten, der die Notverordnung in ihrer ursprünglichen Fassung schon im Sommer 1923 mit Hitler beraten und dessen Placet erhalten hatte. Theodor von der Pfordten zählt bis heute zu den wenig bekannten Förderern der frühen NSDAP. Wie die wenigen Quellen belegen, hielt sich der Deutschnationale von der Pfordten persönlich bewusst im Hintergrund. Der Öffentlichkeit galt er als untadeliger Jurist. Im Sommer 1923 hatte ihn Hitler in seinem Büro aufgesucht und mit anderen zusammen den Notverfassungsentwurf beraten. Maßgebend sei bei der Diskussion gewesen, so der damals anwesende Historiker Karl Alexander von Müller, dass die Grundsätze des nationalsozialistischen Parteiprogramms Eingang in die Überarbeitung fanden: „in Zweifelsfällen warf Hitler eine rasche, befehlshaberische Entscheidung hin.“ (Im Wandel einer Welt, Bd. 3, München 1966 S. 153 ff.) Das Produkt dieser alldeutsch-nationalsozialistischen Kooperation entsprach nun in Gänze jenem von Hitler früher geäußerten „Antisemitismus der Vernunft“, der die „planmäßige gesetzliche Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden“ proklamierte und als letztes Ziel „die Entfernung der Juden überhaupt“ forderte, und ging in wesentlichen Teilen über das offizielle NS-Parteiprogramm, die 25 Punkte hinaus. In den pseudosozialistischen Punkten des Programms wurde die wirtschafts-antisemitische Stoßrichtung deutlich: Abschaffung des Bodenzinses, Verhinderung jeder Bodenspekulation, Kommunalisierung der Warenhäuser und schließlich „Kampf dem jüdisch-marxistischen Geist“ in allen Bereichen des Lebens (Hofer, S. 29 ff).

Die Geschichte des gescheiterten „Hitler-Ludendorff-Putsches“ ist bekannt, doch in dem 1924 vor dem Volksgericht München geführten Verfahren gegen Hitler und Ludendorff, wurde die „Notverfassung“ und die Verstrickung des renommierten Theodor von der Pfordten nicht thematisiert. Verborgen blieb auch, dass die Spur nach Frankfurt und Giessen führte.

Doch das – wie der sozialdemokratische „Volksfreund“ (Braunschweig) am 17. Dezember 1927 nach Bekanntwerden der „Notverfassung“ schrieb – „blutrünstigste Dokument, das die politische Geschichte überhaupt kennt“, verschwand damit nicht im Dunkel der Geschichte. Durch eine gezielte Indiskretion erlangte die preußische Regierung 1926 Kenntnis von dem Notverfassungsentwurf. Ministerpräsident Otto Braun ordnete im Mai 1926 umgehend die Verhaftung von Claß an. Bei der Hausdurchsuchung wurde nicht nur seine Korrespondenz mit dem letzten Kaiser in Doorn und monarchistischen Zirkeln um Elard von Oldenburg-Januschau entdeckt, der den Reichspräsidenten Hindenburg für eine Diktatur gewinnen wollte, sondern auch das vermeintliche Regierungsprogramm der Verschwörer, das die Aufhebung der Reichsverfassung und die Auflösung sämtlicher parlamentarischer Körperschaften vorsah, sowie Todesstrafen für alle, die sich der Verordnung widersetzten.

Es war eben jene „Notverfassung“, die 1923/24 außerhalb der Justizbehörden kaum wahrgenommen worden war, und die nun als sensationelles Dokument ausführlich durch die Presse ging. Obwohl sich 1927 der Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtags zur Rolle Kahrs im Jahr 1923 intensiv mit der „Notverfassung“ befasste, stellte der Oberreichsanwalt das Verfahren gegen Claß im gleichen Jahr wieder ein. 1927, die Republik schien sich zu konsolidiert zu haben und erfreute sich ökonomischer und politischer Stabilität, galt die NSDAP als unbedeutende völkische Splitterpartei, ihr Führer als politisch erfolgloser Agitator von Gestern, ihre Pläne als Drohung der Vergangenheit und kaum einer mochte zu diesem Zeitpunkt daran glauben, dass fünf Jahre später ein Regime an die Macht kommen würde, das seine „Notverfassung“ aus dem Jahre 1923 umsetzen, ja sie in noch radikalerer Form realisieren sollte.

 

 

 

 

 

Literatur::

Hadassa ben Itto, Die Protokolle der Weisen von Zion. Anatomie einer Fälschung, Berlin 1998

Harold J. Gordon, Hitlerputsch 1934. Machtkampf in Bayern 1923-1924, München 1978

Walther Hofer (Hg.) Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1957

Hans Hubert Hofmann, Der Hitlerputsch: Krisenjahre deutscher Geschichte 1920-1924, München 1961

Uwe Lohalm, Völkischer Radikalismus, Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919-1923, Hamburg 1970

Susanne Meinl, Nationalsozialisten gegen Hitler. Die nationalrevolutionäre Opposition um Friedrich Wilhelm Heinz, Berlin 2000

Martin Sabrow, Der Rathenaumord: Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar, München 1994

1926 fand die Polizei bei einer Hausdurchsuchung den Entwurf einer „Notverfassung“, die 1923 nach dem erfolgreichen Hitler-Ludendorff-Putsch in München hätte in Kraft treten sollen. Sie sah nicht nur die Auflösung der Republik, Abschaffung aller demokratischen Rechte und Einführung einer Diktatur vor, sondern auch die Enteignung der Juden und ihre Einweisung in Sammellager. Beteiligt waren an der Ausformulierung dieser Notverordnung auch junge Frankfurter NS-Aktivisten.



Autor/in: Susanne Meinl
erstellt am 01.01.2007
 

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