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Der Reinhart-Brief Mai/Juli 1935

Die Frankfurter ISK-Gruppe verteilte den „Reinhart-Brief“, der in Berlin und später in Paris hergestellt, bis 1939 im Reich illegal verteilt wurde.

 

Mißtrauenswahlen!

 

Bevor wir das Ergebnis der sogenannten Vertrauensratswahlen (VRW) näher betrachten, wollen wir zunächst wieder einmal den wahren Wert nationalsozialistischer Berichterstattung zeigen. Am 8. 4. 34, schrieb der „Deutsche“, die Tageszeitung der „Deutschen Arbeitsfront“, über die VRW von 1934: „Von überall her wird das gleiche erfreuliche Bild gemeldet: Bei einer oft hundertprozentigen Wahlbeteiligung stimmen durchschnittlich 95 bis 98% der Belegschaft für die aufgestellten Listen. Die Wahlen zu den Vertrauensräten ergeben somit das Bild der Geschlossenheit aller schaffenden Deutschen.“ Noch am 26. 3. 35, schrieb der „Völkische Beobachter“ über die gleichen Wahlen: „Das Ergebnis der Wahl war damals eine überwältigende Mehrheit für die Listen der NSBO.“ Zum 1. 5. 35, schrieb Ley in einem schwülstigen Aufruf: „Wer zurückdenkt an die Wahlen des Vorjahres, wo sich – aus Unkenntnis oder Mißtrauen – kaum 40% (!) an der Wahl beteiligten (...)“ Für die VRW von 1935 wird jetzt von Ley angegeben, dass „84,5% Ja-Stimmen“ abgegeben worden seien, und zwar „im Durchschnitt der von allen Gauen und aus allen Betrieben Deutschlands abgegebenen Stimmen“. Vielleicht sagt Ley im nächsten Jahr aus Propagandagründen die Wahrheit über die diesjährigen VRW!

 

Nach uns vorliegenden Meldungen war besonders in kleineren Betrieben häufig gar keine Wahlzelle oder etwas Ähnliches vorhanden. Wer einen Bleistift überhaupt benutzte, kennzeichnete sich dadurch schon als Querulant. Aber auch in Großbetrieben hat man sich nicht gescheut, die Wahl dadurch zu einer öffentlichen, also zu einer gefährlichen Angelegenheit zu machen, daß man diejenigen, die an der Liste etwas ausstreichen wollten, nötigte, dies auf irgend eine Weise öffentlich zu zeigen. (...)

 

Die offizielle Berechnung der Wahlergebnisse läßt sich nicht eindeutig nachprüfen, was sicherlich in der Absicht der Arbeitsfront liegt. Da auf den Listen nur Namen enthalten sind, hat die Veröffentlichung von Ja-Stimmen eigentlich überhaupt keinen Sinn. In den meisten Fällen sind damit wohl diejenigen gemeint, die die Liste nicht völlig durchgestrichen haben. Davon sind viele abgehalten worden, weil auf der Liste häufig einige wirklich vertrauenswürdige Kollegen gestanden haben, so daß die Liste zugunsten dieser Kollegen nur abgeändert wurde. Da aber meist auch abgeänderte Listen als Ja-Stimmen gezählt wurden, sind viele Sozialisten und Antifaschisten zum Ja-Sager gemacht worden. (...)

 

Die bei den Wahlen zum Ausdruck gekommene Opposition der deutschen Werktätigen gegen das Hitlerregime hätte weit gewaltiger sein können, wenn für das ganze Land eine einheitliche Parole aller Antifaschisten zustandegekommen und herausgegeben worden wäre. Die einander widersprechenden Nachrichten der Faschisten über die Art und Weise, in der die Wahl vor sich gehen würde, hatte vielleicht bei manchem Sozialisten die Illusion erweckt, es sei möglich, bei dieser Wahl Kollegen auszuwählen, die wirklich die Interessen der Belegschaft vertreten könnten. Wer das geglaubt hat, hatte vergessen, daß seit dem Gesetz zum Schutz der nationalen Arbeit der Vertrauensmann nur noch die Aufgabe hat, dem Unternehmer die Sorge abzunehmen, seine reaktionären Betriebsmaßnahmen der Belegschaft mundgerecht zu machen. Da die Befolgung der an sich weitestgehenden Protest-Parole: „Bleibt den Wahlen fern!“ unter den heutigen Terror-Umständen längst nicht allgemein politisch klug gewesen wäre, hätte die Parole einheitlich lauten müssen: „Streicht die ganze Liste durch!“. Nur so hätte man die Möglichkeit ausschließen können, daß erklärte Feinde des Faschismus sogar noch mit einem Schein von Recht als Ja-Sager zu seinen Methoden hätten gezählt werden können. (...)
Es ist im Gegenteil gerade nützlich, daß die NSBO–Leute auf den Listen allein bleiben. Soweit sie noch gewählt werden, verlieren sie durch ihre von den Unternehmern erzwungene Unfähigkeit, für die Belegschaft etwas Ordentliches zu erreichen, später deren Vertrauen. Und noch einige solcher Ergebnisse, wie die der VRW 1934 und 1935 müssen niederdrückend und demoralisierend wirken auf die NSBO-Leute, die deutlich erfahren, daß der Nationalsozialismus kein Vertrauen zu gewinnen vermochte.

 

Natürlich wäre die Verteilung von Aufrufen gemeinsamen Inhalts nur ein Schritt gewesen zur Herstellung des organisierten Widerstandes. Das gedruckte Flugblatt muß ergänzt werden durch die mündliche Weitergabe schlagkräftiger und zielbewußter Parolen. Dazu aber müssen in den Betrieben die Hitlergegner nicht nur bei besonderen Gelegenheiten spontan hervortreten, sondern gerade zur Ausnutzung solcher Gelegenheiten bereits vorher zusammengefaßt werden. Die Ergebnisse der VRW bieten ein gutes Hilfsmittel hierfür. Auch das Verhalten der Kollegen am 1. Mai zeigt deutlich, wer für eine solche organisierte Arbeit gewonnen werden kann. Für die schon bestehenden Gruppen der Antifaschisten, wie auch für jeden, der eine solche Arbeit von sich aus erst in Gang setzen helfen will, bietet sich hier die Möglichkeit, an der Aufgabe mitzuhelfen, die bereits in Angriff genommen worden ist, und die gar nicht schnell genug vertieft und verstärkt werden kann: der Aufbau einer parteipolitisch unabhängigen sozialistischen Gewerkschaft.

 

Auszüge aus den „Neuen politischen Briefen“ des ISK, den so genannten „Reinhart-Briefen“, Brief von Mai/Juli 1935 zu den Ergebnissen der von der DAF organisierten betrieblichen Vertrauensratswahlen 1935, Privatbesitz

Die Frankfurter ISK-Gruppe verteilte den „Reinhart-Brief“, der in Berlin und später in Paris hergestellt, bis 1939 im Reich illegal verteilt wurde.


erstellt am 01.01.2003
 

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